Was man über die „Phönizier“ wissen kann
30.10.2024 Kunsthandwerker, Händler und Meister des Alphabets
Die Phönizier sind berühmt als meisterhafte Handwerker, geschickte Seeleute und gewiefte Händler. Doch schon in der Antike war ihr Bild ambivalent. Heute forschen Historikerinnen und Archäologen intensiv, um ein differenzierteres Verständnis ihrer faszinierenden Kultur zu erlangen, die ihren Ursprung im heutigen Libanon hatte und den gesamten Mittelmeerraum prägte.
Als „Phönizier“ bezeichnet man die Trägergruppen einer Stadt- und Seehandelskultur, die ihre ersten Zentren an der Küste der Levante im Bereich des heutigen Staates Libanon hatte. Als bekannteste Städte sind Byblos, Tyrus, Arwad und Sidon zu nennen, die als Stadtstaaten zumindest seit dem Ende des 2. Jahrtausends v.Chr. und dann in Rivalität zueinander während des gesamten 1. Jahrtausends v.Chr. Zentren des Handels und der kulturellen Blüte waren. Ihre Bewohner werden zuerst in griechischen Quellen Phönizier (phoínikes, die „Roten“) genannt. Die „Roten“ ist also eine Fremdbezeichnung, die ganz verschie den interpretiert wurde. Prominent ist vor allem die Deutung als Hinweis auf die Herstellung von Purpur aus Murex-Muscheln, für die die „Phönizier“ berühmt waren. Doch wurden die Stadtstaaten der Levante nie zu einem Gemeinwesen. In ihren eigenen Texten bezeichnet sich die Bevölkerung als Bewohner ihrer jeweiligen Stadt. Erst in hellenistischer Zeit wird die Fremdbezeichnung zur Charakterisierung der eigenen kulturellen Identität. Von den „Phöniziern“ kann daher nur mit großer Vorsicht gesprochen werden.
Zeugnisse wie Puzzleteile rund um das Mittelmeer
Die Quellenlage zu den „Phöniziern“ ist komplex. Ihre zentralen Städte an der libanesischen Küste existieren bis heute und sind daher nicht in großem Stil ausgegraben. Besser ist die archäologische Situation in den Kolonien, vor allem im heutigen Spanien. Ihre literarischen Texte sind fast vollständig verloren. Rund um das Mittelmeer sind mittlerweile ca. 10.000 Inschriften belegt, überwiegend kurze Grabinschriften aus Nordafrika, die vor allem aus Namen bestehen. Die Sprache dieser Texte ist nicht einheitlich, doch sind die Unterschiede relativ gering. Sie steht in einem Dialektkontinuum zu anderen nordwestsemitischen kanaanäischen „Sprachen“ der Levante, wie beispielsweise Moabitisch, Nordisraelitisch, Judäisch, Ammonitisch etc. Sehr viel inhaltsreicher sind die Quellen über die „Phönizier“ von ihren Nachbarn und Feinden, beispielsweise das Alte Testament und die antike griechische und römische Literatur. Sie werden darin als geniale Handwerker, kompetente Seeleute oder auch als gerissene und skrupellose Händler dargestellt. Dieses ambivalente Fremdbild prägt die Vorstellung von den „Phöniziern“ bis heute – bis hin zur Darstellung des phönizischen Händlers Epidemais bei Asterix.
Von „Phöniziern“ spricht man primär im 1. Jahrtausend v.Chr. Doch die Städte sind viel älter: Sie werden bereits mit Lokalkönigen und den aus späterer Zeit bekannten Kulten etwa in der Amarnakorrespondenz (14. Jh. v.Chr.) und dem Kirta-Epos aus Ugarit genannt. Der Umbruch von der Spätbronze- zur Eisenzeit scheint in den Städten keine vollständige kulturelle Zäsur gewesen zu sein; in Arwad, Byblos, Sidon und Tyrus lässt sich bis heute keine Zerstörung aus dieser Zeit nachweisen. Die Stadtstaaten an der Küste und ihr Hinterland lebten in komplexen Beziehungen zu den Großreichen des späten 2. und des 1. Jahrtausends. Als während der Eroberungszüge der Assyrer viele Kleinstaaten in das assyrische Provinzialsystem eingegliedert wurden, behielten zumindest einige „phönizische“ Städte – gegen große Tributzahlungen – eine formelle Unabhängigkeit mit Selbstorganisation und eigenem Königtum. Doch auch sie nahmen an Aufständen teil und wurden Ziel assyrischer Feldzüge; so floh 701 v.Chr. der König von Tyrus nach Zypern, während seine Stadt nur durch ihre Insellage einer Plün derung entging und der größte Teil ihres Gebie tes durch die Assyrer Sidon zugeteilt wurde.
Unter babylonischer Oberhoheit verändert sich die Lage nicht wesentlich. Als Teil des Perserreichs spielten die Schiffe der Städte eine wichtige Rolle in der persischen Flotte. Alle Küstenstädte öffneten Alexander kampflos ihre Tore, mit Ausnahme der Inselstadt Tyrus. Deren Eroberung gelang ihm erst nach dem Aufschütten eines Damms, der, durch Sedimentablagerungen stabilisiert, bis heute existiert. Mit den hellenistischen Reichen endeten die Reste der Selbstständigkeit der Städte, die sich bereits früh der griechischen Kultur geöffnet hatten.
Bis nach Tunesien, Marokko und Spanien
Sehr früh sind Fernhandelskontakte über das gesamte Mittelmeer und darüber hinaus dokumentiert. Früh entstanden Kolonien, initiiert primär durch Tyrus: neben Kition auf Zypern vor allem Karthago im heutigen Tunesien. Spätestens im 10. Jh. v.Chr. ist auch eine tyrische Präsenz auf der Iberischen Halbinsel bezeugt, zu nennen ist vor allem Cádiz (Gadir) am Atlantik, jenseits der Straße von Gibraltar, aber auch im atlantischen Teil des heutigen Marokko sind Siedlungen bis Mogador/Essaouira belegt. Die Sprache und Kultur der Niederlassungen im Westen des Mittelmeers mit dem Zentrum Karthago wird „punisch“ genannt. Die Städte an der libanesischen Küste hatten eine Schlüsselstellung im Handel mit einem im gesamten Alten Orient und Ägypten begehrten Rohstoff, dem Zedernholz aus dem Libanon. Verhandlungen um Zedernholz mit dem König von Byblos dokumentiert die äygptische Erzählung des Wenamun (verfasst im 10. Jh. v.Chr., reflektiert aber ältere Verhältnisse). Hiram von Tyrus soll dem biblischen König Salomo Zedernholz geliefert haben, das über das Meer verschifft wurde (1.Kön 5,22-24; 9,11), und ein assyrisches Relief aus der Zeit Sargons II. (721-705 v.Chr.) zeigt den Transport von Holz aus dem Gebirge per Schiff.
Im Bereich von Religion und Kult sind die Unterschiede zwischen den Städten besonders gut zu greifen. Die Inschriften belegen polytheistische Systeme mit jeweils differenzierten Stadtgottheiten und Stadtpanthea. So ist in Byblos seit frühester Zeit die Göttin Baalat Gubal/„Herrin von Byblos“ prominent – nach Ausweis sowohl der in der Stadt gefundenen I schriften des 1. Jahrtausends v.Chr., als auch älterer ägyptischer Texte bis hin zu Philo von Byblos (1. Jh. nC). Der Baalat Gubal entspricht in Tyrus Melqart als Stadtgott, der im tyrischen Übersee Netzwerk ebenfalls von großer Bedeutung war und in hellenistischer Zeit mit Herakles identifiziert wurde. Einen Blick auf ein Stadtpantheon kann man durch den Staatsvertrag des assyrischen Großkönigs Asarhaddon (681–669 v.Chr.) mit König Baal von Tyrus werfen, in dem die Gottheiten Baal Schamem, Baal Malagê, Baal Zaphon, Melqart, Eschmun und Astarte genannt werden. Stark umstritten ist, ob es vor allem in Karthago die in klassischen Quellen genannten Kinderopfer für die Gottheiten Tinnit und Baal Hamon tatsächlich gab. Die mythologischen Vorstellungen sind weitgehend verloren. Den einzigen erhaltenen mythologischen Text kennt man durch Zitate bei Eusebius von Cäsarea. Daher sind von der „Phönizischen Geschichte“ des Philo von Byblos aus dem 1. Jh. n.Chr. nur Fragmente bekannt, die bei aller Abhängigkeit von Hesiod erstaunliche Parallelen zu Vorstellungen aus Ugarit und Anatolien zeigen.
Kein „Volk“ oder eine Einheit
Auch wenn bei Philo „phönizisch“ zur Bezeichnung kultureller Eigenheiten in einer griechischen Umwelt wird, kann man die Träger der eisenzeitlichen Stadtkulturen der Levanteküste nicht als „Volk“ oder als sonstige Einheit bezeichnen. Trotzdem gab es gemeinsame sprachliche und kulturelle Traditionen, wie man zum Beispiel an einer bestimmten Fundgruppe, den sogenannten anthropoiden Sarkophagen, sieht. Ihre Formen folgen einem menschlichen Körper, dabei sind der Kopf mit dem Gesicht und der Frisur und häufig auch Arme und Hände plastisch herausgearbeitet. Man nimmt an, dass sich der Anstoß zu dieser Sarkophagform genau datieren lässt: Vermutlich im Kontext des Feldzuges des Perserkönigs Kambyses (525 v.Chr.) gelangten zwei ägyptische Sarkophage nach Sidon, in denen zwei dortige Könige, Tabnit und sein Sohn Eschmunazor, bestattet wurden. Bereits die nächste Generation sidonischer Könige wurde in vor Ort hergestellte Sarkophage gelegt, die die ägyptischen Formen aufnahmen und sich anverwandelten. So entstand ihre typische Gestaltung, bei der die Darstellung von Kopf und Frisur neben den ägyptischen vor allem von griechischen Traditionen beeinflusst wurde. Sie verschmolz Einflüsse verschiedener Kulturen, aus denen etwas Charakteristisches entstand, in einem Material, Marmor, das aus dem griechischen Bereich importiert wurde. Solche Sarkophage sind in den folgenden zwei Jahrhunderten im „phönizi schen“ Einflussbereich breit belegt, sowohl im heutigen Libanon als auch in Zypern, Sizilien und Cádiz in Spanien.
Bei anderen Fundgruppen ist die Einordnung als „phönizisch“ problematischer, etwa bei den verzierten Riesenmuscheln, einem typischen Luxus-Exportartikel der zweiten Hälfte des 7. und des frühen 6. Jh. v.Chr. In Mesopotamien, in der südlichen Levante, in Nordafrika und in der Ägäis fand man Muscheln der Art Tridacna squamosa, die im Roten Meer und im Persischen Golf lebt, aber nicht im Mittelmeer. Die 20–30 cm langen Muscheln wurden aufwendig bearbeitet: Das Gehäuse wurde geglättet und auf beiden Seiten mit gravierten Ornamenten, Blüten, Lotusknospen, Palmetten, Tieren und Menschen verziert, der Umbo („Scharnier“ der Muschel) wurde als Frauen- oder Greifvogelkopf gestaltet und die Muschel häufig mit ein gravierten Flügeln auf der Außenseite versehen. In den Ritzen einiger Exemplare wurden Reste von Schminke (dem heutigen Kajal entsprechend) gefunden, es handelte sich also wohl um Gefäße für Kosmetik. Alle Muscheln aus Mesopotamien, der Levante und Ägypten wurden in Palästen und Wohngebäuden gefunden, diejenigen in Kleinasien, der Ägäis, in Zypern und der Cyrenaika aber vor allem in Heiligtümern. Die Lage der Werkstätten erschließt sich durch den Fund von unbearbeiteten Exemplaren im Süden der Levante: Sie sind nicht in den Küstenstädten des heutigen Libanon bezeugt, sondern weiter südlich im Hinterland bis hin nach Transjordanien. Die Werkstätten waren damit vermutlich eher mit den Häfen in Gaza und Aschkalon und der dort endenden Weihrauchstraße verbunden.
Die Meister der Alphabetschrift Eine besondere Bedeutung haben die „Phönizier“ für die Geschichte der Alphabetschrift. Das Alphabet, also die Form der Schrift, die Äußerungen als Reihe von Einzellauten darstellt und jedem Laut ein Zeichen zuordnet (und nicht etwa aus Wort- oder Silbenzeichen besteht) entstand im 2. Jahrtausend v.Chr. im Raum Syrien Palästina. Es ist dort, dem System der Semitischen Sprachen entsprechend, ein reines Konsonantenalphabet. Die Weitergabe der Alphabetschrift in den griechischen Raum ist nach griechischen und lateinischen Autoren durch „die Phönizier“ geschehen. So nennt Herodot die Buchstaben des griechischen Alphabets phoinikea grámmata oder kadmeia grámmata nach dem (mythischen) tyrischen Königssohn Kadmos. Die ältesten Funde von monumentalen Inschriften in Alphabetschrift mit Buchstaben, denen man ihre piktografische Vergangenheit nicht mehr ansieht, einheitlich von rechts nach links geschrieben und in der Form und Ordnung, wie sie dann über Jahrhunderte tradiert und weiter entwickelt wurde, wurden in Byblos gemacht. In Verbindung mit der antiken Tradition wird diese Schriftform als phönizisch bezeichnet. Sie hatte eine große Ausstrahlung und setzte sich in der Eisenzeit in der Levante und darüber hinaus erstaunlich schnell durch. Im 9.–8. Jh. v.Chr. war das überregionale Prestige der phönizischen Schriftkultur so groß, dass nicht nur die Schrift, sondern auch die Sprache in Südanatolien für repräsentative Inschriften verwendet wurde. Von dort, aus dem Fundort Karatepe/Azatiwadaya stammt auch der längste überhaupt bekannte phönizische Text, dem eine zweite hieroglyphenluwische Version beigesellt ist.
Die „Phönizier“ sind ein Konstrukt der griechisch-römischen Antike, das von verschiedenen Gruppen zu verschiedenen Zeiten und auch von der modernen Forschung übernommen wurde. Es beschreibt die Trägergruppen des von der Küste der Levante ausgehenden Seehandels im 1. Jahrtausend v.Chr. und die ihnen zugeschriebenen Objekte und kulturellen Errungenschaften. Überspitzt kann man sagen: „Die Phönizier“ gab es nicht – und doch haben sie die Welt, vor allem aber den Mittelmeerraum, bis auf den heutigen Tag geprägt. Von ihnen geblieben ist vor allem die weite Verbreitung der Alphabetschrift. So ist auch dieser Beitrag in einer Weiterentwicklung dieser Schrift geschrieben.
[Prof. Dr. Anna Elise Zernecke lehrt Religionsgeschichte des Alten Testaments und Archäologie Syrien-Palästinas an der Universität Kiel]