Es ist eine abenteuerliche und ehrfurchteinflößende Erzählung in Ex 19-20: Der Berg ist in Wolken, Dunkel, Feuer und Rauch gehüllt, es blitzt und donnert, ein Horn ertönt, die Erde bebt, alle zittern. Aaron und Mose steigen auf den Berg, das Volk hört die Zehn Gebote. Am Schluss erhält Mose die zwei Tafeln als Bundeszeugnisse, steinerne Tafeln, beschrieben vom Finger Gottes. Was kann man über die Tafeln aussagen?
Gab es die Tafeln überhaupt?
Rechtssätze, im Alten Orient zumeist in Wenn dann-Form, wurden ab dem Ende des 3. Jt. v.Chr. in Keilschrift in Tontafeln eingedrückt oder auch in Steinstelen eingemeißelt. Die Verbindung von Stein und Gesetz ist also nicht fremd. Ob es die Gebotstafeln der Bibel je gab, darüber kann man archäologisch keine Aussage treffen. Höchstwahrscheinlich existieren sie nur in der Literatur. Denn die Bibelstellen, die die Tafeln erwähnen, sind recht spät zu datieren, in die Zeit des Babylonischen Exils oder später: Und zu dieser Zeit existierte die Bundeslade samt möglichem Inhalt schon nicht mehr. Auch werden die Tafeln in keiner Erzählung mehr aus der Lade herausgeholt; Gott hat sie beschrieben, dann sieht sie niemand mehr. Die Redaktoren und Schreiberkreise haben die Zehn Gebote vermutlich fiktiv auf Steintafeln verlegt, um ihnen buchstäblich Gewicht zu verleihen.
Gab es die Bundeslade, in die Mose die Tafeln gelegt haben soll?
Die Existenz einer Lade im alten Israel, einer Art Kriegspalladium, das die Präsenz Gottes anzeigte und beispielsweise in Kämpfe mitgenommen wurde, muss kaum angezweifelt werden. Von der Lade wird erzählt, dass sie in den Tempel nach Jerusalem gebracht und dort im Allerheiligsten unter dem Cherubenthron deponiert wird. Vielleicht wurde sie zu einer Art Einheitssymbol für Israel und Juda. Kultisch spielt die Lade dann offenkundig keine Rolle mehr. Dass sich also im Ersten oder Salomonischen Tempel eine „Lade“ aus alter Zeit befand, die transportabel war und mit einer Erzählung von Wüstenwanderung und Befreiungserfahrung verbunden wurde, kann gut sein. Ob aber etwas darin war, weiß man nicht. Wie die Lade aussah, ist aus den späteren, idealisierenden Texten (Ex 25, Goldüberzug in der priesterschriftlichen Redaktion) ebenfalls nicht mehr zu erschließen. Die Verbindung von Lade und Tafeln, dass also Mose den Berg hinuntersteigt und die Tafeln in die Lade legt, ist eine spätere erzählerische Schöpfung. Aus der archäologischen Ausgrabung im Tempel auf dem Tell Tayinat weiß man allerdings, dass assyrische Vasallenverträge im Heiligtum an prominenter Stelle aufgestellt waren – die erzählerische Verlegung der Bundesurkunde (des Vertrages) in den Tempel ist vielleicht aus der Umwelt inspiriert.
Waren die Tafeln auf beiden Seiten beschrieben?
In Exodus heißt es: „auf der einen wie auf der anderen Seite waren sie beschrieben”. Die Tafeln hatte Gott selbst gemacht und die Schrift, die auf den Tafeln eingegraben war, war laut Ex 32,16f. Gottes Schrift. Dies ist wohl eine Notiz für das Verständnis der Leserinnen und Leser, dass kein Platz mehr ist, auf dem Menschen noch etwas hinzuschreiben könnten. Randscharf war der Platz auf den Tafeln vom Finger Gottes beschrieben. Doch auch gesetzliche Keilschrifttafeln und Steinstelen wie die Stele des Hammurabi waren beidseitig und rundherum beschrieben. Der biblische Hinweis passt zumindest zu den Rechtssammlungen der historischen und kulturellen Umwelt der Bibel. Ursprünglich war vielleicht auch an eine doppelte Ausfertigung der Vertragsurkunde gedacht, nicht an ein Verteilung auf zwei Tafeln.
Ist die Bundeslade in Äthiopien?
Das äthiopische Nationalepos Kebra Negast (entstanden im 13. Jh.) erzählt, das Salomo und die Königin von Saba einen Sohn hatten: Menelik, den legendären ersten Kaiser Abessiniens (975–950 v.Chr.). Er habe die Lade nach einem Besuch in Jerusalem in die heilige Stadt Aksum mitgebracht, in Jerusalem sei danach eine Replik erstellt worden. Die Lade soll bis heute in einer Kapelle der Kirche der Heiligen Maria von Zion in Aksum aufbewahrt werden, ständig bewacht von einem Mönch. Sie darf nicht einmal vom Patriarchen der äthiopisch-orthodoxen Kirche gesehen werden. Historisch-archäologische Kriterien sind hier für den Glauben gänzlich unerheblich: In einem mystischen Verständnis IST es für die äthiopischen Gläubigen die Lade – heilig und geheimnisvoll.
Wann verliert sich die Spur der Bundeslade?
Mit der Eroberung Jerusalems und dem Babylonischen Exil im frühen 6. Jh. v.Chr. Der Prophet Jeremia (3,16-17) tröstet die exilierten Judäer: „Und wenn ihr euch im Land vermehrt und fruchtbar seid in jenen Tagen – Spruch des Herrn – , wird man nicht mehr rufen: die Bundeslade des Herrn! Sie wird niemand in den Sinn kommen; man denkt nicht mehr an sie, vermisst sie nicht und sie wird nicht wiederhergestellt.“ Doch was spurlos verschwindet, regt zur Legendenbildung an: 2.Makk 2,5 lässt Jeremia die Lade in einer Höhle am Sinai verstecken, deren Ort niemand kennt, bis „Gott das Volk wieder zusammenführt“. Die Johannesoffenbarung sieht in einer Vision die Lade im himmlischen Tempel (Offb 11,19).
Was ist von Meldungen zu halten, Forschende seien der Lade mit den Tafeln auf der Spur?
Die Gebotstafeln sind enorm emblematische Objekte der Kulturgeschichte – die Suche ist verständlich, aber wohl zwecklos. Sie ist eher in US-amerikanischen, evangelikal-fundamentalistischen Kreisen zu verorten, weil hier die kreationistische Ideologie vorsieht, dass sich die Ereignisse der Bibel wörtlich zugetragen haben und beweisbar sind.