Mose empfing die Tora vom Sinai, überlieferte sie Joschua ...
Was ist das rabbinische Judentum? Teil 1
Das rabbinische Judentum und das frühe Christentum finden beide ab dem 2. Jh. zu ihrer je eigenen Form. Das rabbinische Judentum entwickelt dabei eine faszinierend lebendige und offene Diskussionskultur über die Tora: Frage, Antwort, Kommentar zur Antwort, neue Fragen und Antworten, Diskussion, Zusammenfassung der Diskussion, Kommentar zur Zusammenfassung … Im Zentrum steht, wie Gottes Wille und gottgewollte menschliche Gemeinschaft im Leben umsetzbar sind. Bis heute werden der Talmud und weitere Schriften gelehrt, studiert und diskutiert. Beide Religionsgemeinschaften gründen auf heiligen Schriften des Judentums. Heute erkennt die Forschung zunehmend, wie sich Judentum und Christentum in ihren Entwicklungen der ersten Jahrhunderte auf einander bezogen haben.
[Von Tamar A. Avraham, Dozentin in der interreligiösen Bildungsarbeit und lebt als modern orthodoxe Jüdin in Jerusalem]
Das rabbinische Judentum baut auf einer wichtigen Vorstellung auf: Die Tora ist Gottes Offenbarung – und diese Offenbarung gibt es als schriftliche und mündliche Tora! Die eine findet man niedergeschrieben in der Bibel. Die andere Tora ist seit Mose mündlich weitergegeben worden. Und diese mündliche Weisung bringen die Rabbinen durch ihre Auslegungen ins all tägliche Leben der Menschen – was rege Debatten auslöste.
“Mose empfing die Tora vom Sinai, überlieferte sie Joschua, Joschua den Ältesten, die Ältesten den Propheten, und die Propheten überlieferten sie den Leuten der großen Synode [zur Zeit Esras]. Diese sagten drei Dinge: Seid bedächtig beim Recht sprechen, bildet viele Schüler aus, und errichtet einen Zaun um die Tora. Schimon der Gerechte war einer der letzten der großen Synode ... Antigonos aus Socho empfing von Schimon dem Gerechten … Jose ben Jo‘eser aus Zereda und Jose ben Jochanan aus Jerusalem empfingen von jenen … Jehoschua ben Perachja und Nitai aus Arbel empfingen von jenen ... Jehuda ben Tabai und Schimon ben Schatach empfingen von jenen … Schema ja und Avtalion empfingen von jenen … Hillel und Schammai empfingen von jenen … Rabban Gamliel [I.] sagte: … Sein Sohn Schi mon sagte … Rabban Schimon ben Gamliel [II.] sagte: … Rabbi [= Rabbi Jehuda der Patriarch] sagte … Rabban Gamliel [III.], der Sohn Rabbi Jehudas des Patriarchen, sagte: … Hillel sagte: … Rabban Jochanan ben Sakkai empfing von Hillel und Schammai …”
So beginnt der Mischna-Traktat Avot [פרקי אבות Pirqe Avot], „Sprüche der Väter“, ein wichtiger Absatz, um die rabbinische Bewegung zu verstehen. Die Abfolge postuliert eine vom Sinai empfangene Tora, die nicht niedergeschrieben wurde – im Gegensatz zur Tora, die als die fünf Bücher Mose in die Bibel ein ging. Diese Tora wurde von Generation zu Generation mündlich weitergegeben: zunächst an Joschua, die Ältesten und die Propheten, die aus der Bibel bekannt sind, dann an die „Leute der großen Synode“. Wer sind diese „Leute“? Sie werden in der rabbinischen Literatur mit nachexilischen biblischen Gestalten wie den Propheten Haggai, Sacharia und Maleachi, Daniel und seinen Gefährten, Esra, Nehemia, Serubabel ben Sche‘altiel und Mordechai identifiziert. Einmal werden sie im Talmud auch als eine Gruppe von 120 Ältesten, die 18 Segenssprüche festlegten, erwähnt. Dann folgen einzelne Personen oder „Paare“, von denen charakteristische Aussprüche wiedergegeben werden, bis hin zu Rabbi Jehuda dem Patriarchen (Jehuda haNasi), dem die Redaktion der Mischna zu Beginn des 3. Jh. zugeschrieben wird, und seinem Sohn Rabban Gamliel.
Verstehen, was die mündliche Tora ist
Maimonides (1139–1204), einer der bedeutendsten jüdischen Gelehrten, erklärt in der Einleitung zu seinem Mischna-Kommentar das Wesen der mündlichen Tora, wie es die rabbinische Tradition versteht: Sie ist die detaillierte Auslegung der in der schriftlichen Tora knapp formulierten Gebote. Wird in der schriftlichen Tora geboten, während des Laubhüttenfestes sieben Tage lang in Hütten zu wohnen (Lev 23,42), so wird in der mündlichen Tora (Traktat Sukka) dies dahingehend präzisiert, dass das Dach der Hütte aus pflanzlichem Material gemacht und sie selbst mindestens sieben mal sieben Handbreit groß und zehn Handbreit hoch sein muss. Frauen, Kranke und Reisende sind zudem von dem Gebot des Wohnens in der Hütte ausgenommen. Bei diesen Präzisierungen wird unterschieden zwischen Überlieferungen, die auf Mose zurückgehen, aber auch eine Andeutung in der schriftlichen Tora haben, und „Halacha [הֲלָכָה, “Vorschrift”] des Mose vom Sinai“, die mündlich überliefert ist, ohne einen Anhaltspunkt in der schriftlichen Tora zu haben, wie beispielsweise die Vorschriften für das Schreiben einer Torarolle.
Darüber hinaus enthält die mündliche Tora Vorschriften, die aufgrund bestimmter Auslegungsregeln aus der schriftlichen Tora abgeleitet werden, zum Beispiel durch den Schluss vom Leichteren auf das Schwerere, durch Analogieschluss, eine Schlussfolgerung aus dem Kontext oder auch durch einen dritten Vers, der zwischen zwei einander widersprechenden Versen entscheidet. Diese im Laufe der Zeit erweiterten Regeln wurden in Gruppen, den „sieben Regeln Hillels“, den „13 Regeln Rabbi Jischmaels“ und den „32 Regeln Rabbi Elieser ben Joses“, zusammengefasst. Bei diesen Ableitungen kam es unter den Rabbinen zu Meinungsverschiedenheiten, und die geltende Praxis wurde nach Mehrheitsentscheidung festgelegt.
Schließlich gibt es noch den sogenannten „Zaun um die Tora“, der im Mischna-Traktat Avot bereits den „Leuten der großen Synode“ zugeschrieben wird: Es ist das Verbot von eigentlich erlaubten Dingen, deren Tun aber zum Übertreten von Verboten der schriftlichen Tora führen kann, wie das Verbot, Hühnerfleisch in Milch zu essen, während die schriftliche Tora nur das Essen des Fleisches reiner Säugetiere in Milch verbietet. Der Zaun soll also einen Schutz davor bieten, überhaupt in die Nähe einer Gebotsübertretung zu kommen. Wenn sich ein solches „schützendes“ Verbot einmal durchgesetzt hat, kann es nicht mehr aufgehoben werden. Dasselbe gilt für Statuten und Bräuche, die festgelegt wurden, um das Zusammenleben zu regeln.
Die Spannung zwischen schriftlicher und mündlicher Tora
Ein vergleichender Blick in die schriftliche und mündliche Tora zeigt recht schnell, dass ihr Verhältnis zueinander wesentlich komplizierter ist als einfach nur allgemeine Aussage gegenüber ausformuliertem Detail oder Andeutung gegenüber logischer Ableitung. Maimonides selber unterscheidet an anderer Stelle zwischen der Auslegung der schriftlichen Tora nach dem Wortsinn und ihrer – für die Praxis verbindlichen – Auslegung aufgrund der mündlichen Tora. So scheint beispielsweise die Sanktion „Auge um Auge“ (Ex 21,24) dem Wortsinn nach zu bedeuten, dass demjenigen, der einem anderen ein Auge ausgestochen hat, ebenfalls ein Auge ausgestochen wird; im Mischna-Traktat Baba Qamma 8,1 wird aber festgelegt, dass verschiedene Formen des Schadensersatzes zu zahlen sind. Im Babylonischen Talmud (83b) folgt als Kommentar eine lange Diskussion, warum als Sanktion nicht das Ausstechen des Auges gemeint sein kann – als wüssten die Rabbinen genau, dass sie hier eine Interpretation verteidigen müssen, die gegen den Wortsinn geht. Manche Gelehrte haben die Autorität der mündlichen Tora deutlich ausgesprochen: Sie legt nach ihren eigenen Kriterien und nicht nach dem Wortsinn der schriftlichen Tora die religiöse Praxis fest. Einer dieser Gelehrten war Rabbi Elijahu, der Gaon [גאון, “Rabbi”] von Wilna (1720-1797), der als Haupt der »Litauer« die zentrale Wichtigkeit des Torastudiums gegenüber der emotionalen chassidischen Frömmigkeit betonte und feststellte: „Dies ist die Größe unserer mündlichen Tora, dass sie Halacha des Mose vom Sinai ist, und sie dreht sich herum wie der Ton eines Siegels.“ Das heißt, so wie die Schrift auf dem Siegel eine Spiegelschrift ist und das Gegenteil der Schrift, die bei Benutzung des Siegels erscheint, so gibt es in der mündlichen Tora Dinge, die dem widersprechen, was die schriftliche Tora sagt, aber dies ist „Halacha des Mose vom Sinai“.
Was besagt der Begriff „rabbinisches Judentum“? Und wie wird es zeitlich eingegrenzt?
Rabbinisches Judentum im weitesten Sinn ist Judentum, das diese Autorität der mündlichen Tora anerkennt. Wenn heutiges Judentum kaum so genannt wird, dann weil rabbinisches Judentum seit Jahrhunderten Judentum schlechthin ist. Denn es sind nur zwei verschwindend kleine Gruppen übrig geblieben, die die mündliche Tora nicht anerkennen: knapp tausend Samaritaner, die bereits zur Zeit des Zweiten Tempels nur die schriftliche Tora in einer ihnen eigenen Version anerkannten, und ca. 50.000 Karäer, die nur die Mikra [מִקְרָא], also den kanonisierten Tenach, die geschriebenen Heiligen Bücher des Judentums mit Tora, Propheten und Schriften, anerkennen und im Mittelalter eine ernst zu nehmende Konkurrenz zum rabbinischen Judentum darstellten. Im engeren Sinn kann man als rabbinisches Judentum die Zeit der schriftlichen Niederlegung der mündlichen Tora in Mischna, Tosefta [תוספתא, Sammelwerk mündlicher Überlieferungen und Traditionen des Judentums aus rabbinischer Zeit] und dem Palästinischen und Babylonischen Talmud bezeichnen.
Nach dieser Zeit beginnt wiederum die Kommentierung dieser Texte selbst. Als Endpunkte werden gesetzt:
• die Endredaktion des Babylonischen Talmud im 8. Jh.,
• das Erlöschen des Amtes der Geonim – der Leiter der babylonischen Talmudschulen – um 1035,
• die gleichzeitige Auffächerung des Judentums in eine weit gestreute Diaspora von Ägypten über Spanien bis Deutschland
• und spätestens die Eroberung Jerusalems durch die Kreuzfahrer 1099.
Eine innere Gliederung der Epoche wurde von Abraham Ibn Daud im Sefer ha-Qabbala vorgenommen. Er unterscheidet fünf Generationen von Tannaiten (aramäisch tanna = „wiederholen, lehren“), Gesetzeslehrer, deren Lehren den Inhalt der Mischna bilden, also die Lehrer der mischnaischen Zeit, die sich bis etwa 200 n.Chr. in die Zeit von Rabbi Jehuda haNasi erstreckte. Ihnen folgen sieben Generationen von Amoräern (von amar = „sagen, kommentieren“), Gelehrte des 3.-5. Jahrhunderts in Babylonien und in Palästina , die sich über die mündliche Tora »unterhalten« oder davon »erzählt« haben. Ihre Diskussionen wurden in der Gemara [גמרא, gamar, “vollenden, abschließen”] kodifiziert. Mischna und die Gemara bilden gemeinsam den Talmud.
Der sanfte Hillel und der strenge Schammai
Hillel [הִלֵּל] und Schammai [שַׁמַּאי] waren in etwa Zeitgenossen Jesu. Ihre Schüler hatten als Schule Hillels und Schule Schammais großen Einfluss in den Jahrzehnten vor der Tempelzerstörung. Die Lehrunterschiede zwischen beiden er geben sich in den meisten Fällen dadurch, dass Schammai eine strengere und Hillel eine gemäßigtere Auslegung strittiger Fragen vertrat. Im Misch na-Traktat Edujot sind die Fälle aufgelistet, in denen es umgekehrt war. Die geltende Halacha richtet sich normalerweise nach der Schule Hillels mit Ausnahme von 18 Entscheidungen, die zu Beginn des Traktates Schabbat im Babylonischen Talmud aufgelistet werden. Sie wurden an einem Tag gefällt, an dem im Lehrhaus die Zahl der Schüler Schammais die Zahl der Schüler Hillels übertraf. Im Palästinischen Talmud heißt es dazu bedauernd: „Dieser Tag war schwer für Israel wie der Tag, an dem das [goldene] Kalb gemacht wurde.“ Ein anschauliches Beispiel für den unterschiedlichen Charakter der beiden Gelehrten findet sich im Babylonischen Talmud Schabbat 31a in der Erzählung von einem Heiden, der zunächst zu Schammai kam und ihm sagte, er würde zum Judentum übertreten, wenn er ihn die Tora lehre, solange er auf einem Fuß stehen könne. Schammai vertrieb ihn mit einem Stock. Dann ging der Mann mit derselben Bitte zu Hillel. Dieser sagte zu ihm: „Was dir verhasst ist, tue nicht deinem Nächsten, das ist die ganze Tora, das andere ist Auslegung; geh und lerne“.
[Ergänzungen der Redaktion, die der besseren Verständlichkeit dienen sollen]