Krieg und Frieden - was sagt die Bibel?
31.12.2024 Einige christliche Gedanken zum Jahreswechsel
Schwerter zu Pflugscharen (Jes 2,4) oder Pflugscharen zu Schwertern (Joel 4,10)? Die biblischen Autoren haben sich viele Gedanken über die Deutung des Krieges und von Gewalt gemacht. Sowohl im Alten wie auch im Neuen Testament reflektieren Texte allgegenwärtige Erfahrungen – aus der Perspektive der Opfer wie der Täter. Um diesen Facetten von menschlicher wie göttlicher Gewalterfahrung gerecht zu werden, braucht es gut überlegte Auslegungsstrategien.
Wo würden Sie folgendes Zitat in der Bibel einordnen? Wer könnte diese Worte sprechen: „Denkt nicht, ich sei gekommen, um Frieden auf die Erde zu bringen! Ich bin nicht gekommen, um Frieden zu bringen, sondern das Schwert“? Wahrscheinlich haben Sie auf ein Wort eines alttestamentlichen Propheten getippt, eine Unheilsankündigung an das Volk Israel oder auf irgendeinen König des Alten Testaments (AT). Lösung: Es handelt sich um ein Jesuswort, um Mt 10,34. Oftmals herrscht das Bild vom gewalttätigen AT und vom friedfertigeren Neuen Testament (NT) in unserer Wahrnehmung vor. Dass aber beide Teile der Bibel ein weitaus differenzierteres Bild vom Thema Krieg und (physische) Gewalt zeigen und unterschiedlichste Strategien anbieten, um damit umzugehen, möchte dieser Beitrag aufzeigen. In einem ersten Schritt werden die unterschiedlichen Konstellationen der Gewalt erklärt, in einem zweiten Schritt wird die Vielfalt der Auslegungsstrategien dargestellt. Gewalt ist (leider) eine Grundkonstante der Menschheit. Das spiegeln auch die biblischen Texte, beginnend mit der Ermordung des Bruders Abel (Gen 4) bis hin zur Massengewalt in der Offenbarung. In den Texten kommen Krieg und die unterschiedlichen Formen von Gewalt so gut wie nie als abstrakte Größen vor, sondern immer als konkrete. Es wird nicht theoretisch über Gewalt philosophiert, sondern konkrete Gewalttaten werden geschildert. Dabei ist es wichtig, die Konstellationen genau anzusehen, denn je nachdem ergeben sich andere Fragestellungen und Probleme. Die Bibel schildert nicht nur unterschiedliche Formen von Gewalt (göttliche, menschliche, sexualisierte, ritualisierte, familiäre, physische, psychische, kriegerische), sondern auch unterschiedliche Situationen. Es macht einen großen Unterschied, ob ein Text eine Gewalttat aus der Opferperspektive, der Täterperspektive oder von einem „unbeteiligten“ Dritten schildert. Ein und dieselbe Gewalttat kann von einer Seite als Wiederherstellen der Gerechtigkeit wahrgenommen werden und von der anderen Seite als grausamer Willkürakt. Im Folgenden wird zunächst göttliche Gewalt näher beleuchtet.
Gott als Krieger
Versucht man die biblischen Texte, die von Gewalt erzählen, zu ordnen, so fallen verschiedene Konstellationen auf, wer gegen wen kämpft. Gott kann beispielsweise für sein Volk oder anstelle seines Volkes kämpfen, sein Volk in Kriegszeiten alleine lassen oder sogar gegen Israel in den Krieg ziehen. Die Gewalt Gottes kann sich aber auch gegen den Krieg selbst wenden. Wenn die Bibel göttliche Gewalt schildert, so ist die uns am meisten vertraute Konstellation, dass er auf der Seite seines Volkes steht und rettend eingreift. So zum Beispiel beim Auszug aus Ägypten. Gott rettet sein Volk, unbewaffnete Zivilisten, vor dem herannahenden Heer Ägyptens, das mit der damals besten Waffentechnologie (Streitwagen) ausgerüstet ist. Diese gewalt(tät)ige Tat ist die grundlegende Rettungserfahrung des Gottesvolkes. Betrachtet man die Konstellation dieses Geschehens, wird deutlich, dass Gott in diesem Text für bzw. eigentlich anstelle seines Volkes kämpft: „Der HERR kämpft für euch, ihr aber könnt ruhig abwarten.“ (Ex 14,14), um einen viel stärkeren Feind zu besiegen. Die Gewalt Gottes wird als Befreiung und Rettung dargestellt. Die Lesenden des Textes werden eingeladen, sich mit dem Volk Israel zu identifizieren, nicht mit der Armee Ägyptens. Steht Gott bei Kriegen auf der Seite Israels, so ist es erfolgreich. Dabei werden die Kämpfe oft auch als Glaubensproben bzw. Vertrauensproben gestaltet (siehe Ex 14; 17,8-13). Besonders eindrücklich ist dies im Buch Richter, wo Gideon gegen Midian in den Kampf zieht und von Gott aufgefordert wird, immer mehr und mehr seiner Soldaten nach Hause zu schicken und nur mit einer kleinen Truppe loszuziehen. „Der HERR sagte zu Gideon: Die Leute, die du bei dir hast, sind zu zahlreich, als dass ich Midian in ihre Hand geben könnte. Sonst könnte sich Israel mir gegenüber rühmen und sagen: Meine eigene Hand hat mich gerettet.“ (Ri 7,2) Das Volk Israel siegt nicht aus eigener Kraft, sondern nur, weil Gott hinter ihm steht. Ist dem nicht so, hilft auch Waffenstärke oder Truppengröße nichts. Der entscheidende Faktor im Krieg bleibt Gott. Wenn Gott für sein Volk oder anstelle seines Volkes kämpft, ist Krieg nicht etwas Profanes, sondern gehört auch zur religiösen Sphäre. Manchmal wird biblisch auch von JHWH-Kriegen [JHWH ist der Eigenname Gottes im AT] gesprochen. Dahinter steht die altorientalische Vorstellung, dass die Gottheit für das eigene Volk kämpft. So wie JHWH die Kriege seines Volkes führt, führen die anderen Götter die Kriege ihrer Völker: „Ist es nicht so: Wen Kemosch, dein Gott, vertreibt, dessen Besitz nimmst du, und wen immer der HERR, unser Gott, vor unseren Augen vertreibt, dessen Besitz nehmen wir“. (Ri 11,24) Der Begriff „Heiliger Krieg“ ist allerdings eine moderne Konzeption des 20. Jh., dieser Begriff findet sich in der Bibel nicht.
Zieht Gott nicht mit seinem Volk in den Krieg, so erleidet es eine Niederlage (Num 14,40- 45). Das ist auch der Grund, warum in manchen Texten erzählt wird, dass sich der König oder Anführer vor der Schlacht bei einem Priester oder Propheten des Beistandes Gottes vergewissert (1.Sam 30,7-8; 1.Kön 22,1-6). Gott kann aber auch dezidiert gegen sein Volk kämpfen und dabei sogar fremde Völker als sein Kriegswerkzeug benutzen. Beispielsweise in Jes 5,25-30 oder auch Jes 7,18f. setzt Gott fremde Völker ein, um Krieg gegen Israel zu führen. Gott ist hier der viel mächtigere Täter, Israel das Opfer und die Völker werden als Gottes Strafwerkzeuge betrachtet. In dieser Konstellation wird Gottes Gewalt nicht als Befreiung, sondern als Strafe oder sogar Hinrichtung gesehen. Auch auf individueller Ebene wird davon erzählt, dass Gott als jemand erfahren werden kann, der gegen einen Menschen kämpft. Hiob erlebt Gott als feindlich und drückt das mit folgenden Worten aus: „In Ruhe lebte ich, da hat er mich erschüttert, / mich im Nacken gepackt, mich zerschmettert, / mich als Zielscheibe für sich aufgestellt. Seine Pfeile umschwirren mich, / schonungslos durchbohrt er mir die Nieren, / schüttet meine Galle zur Erde“ (Hiob 16,12f.)
Gottes Gewalt richtet sich auch gegen das Chaos, um die Welt als geordneten Lebensraum zu erhalten (Hiob 26,12f; Ps 74,13f.). Hier hat Gewalt einen schöpferischen Aspekt. Dass über die Weltschöpfung in Bildern des Kampfes gesprochen wird, ist für Lesende heute meist fremd, vielleicht sogar befremdlich, aber im altorientalischen Kontext weitverbreitet. Gott kann auch gewaltsam gegen den Krieg selbst kämpfen, indem er die üblichen Kriegswaffen wie das Schwert oder, wie in Ps 46,10, den Bogen, den Speer und den Streitwagen zerstört. In dieser Konstellation kämpft er gewaltsam oder zumindest sehr kraftvoll für den Frieden oder für das größere Ziel einer kriegsfreien Zukunft. „Gott als Krieger“ kommt in der Bibel in verschiedenen Situationen vor. Er kann dabei rettend, strafend oder auch schöpferisch wirken. Die Konstellationen lassen sich nicht in eine Chronologie einpassen: Es gibt also keine gerade Linie von der Befürwortung militärischer Gewalt bis zur Ablehnung derselben. Die Bandbreite der Konzepte zeigt, wie sehr sich die biblischen Autoren Gedanken über die Deutung des Krieges gemacht haben, damit das Volk in seiner von Kriegen und Fremdherrschaft geprägten Geschichte bestehen kann.
Der kriegerische/gewalttätige Mensch
Auch die menschliche Gewalt wird biblisch aus unterschiedlichen Perspektiven dargestellt. Der Mensch kann als kriegerischer Held gefeiert werden, als Gewaltmensch verurteilt, er kann auf der Seite der Opfer die erlittene Gewalt beklagen, erdulden oder Gott zum Eingreifen aufrufen. So manche Strafe der biblischen Gesetze beinhaltet Gewalt und auch in der Erziehung der Kinder waren physische Strafen offenbar üblich. Die menschliche Möglichkeit, Gewalt auszuüben, wird von den biblischen Texten weder verschwiegen noch geschönt. Die Texte halten uns sozusagen einen Spiegel vor, wozu wir Menschen fähig sind. Je nachdem, welche Rolle die Identifikationsfigur des Textes einnimmt, ergeben sich unterschiedliche Täter-Opfer-Konstellationen bzw. Machtkonstellationen. Die Erzählungen rund um David bieten hier die unterschiedlichsten Situationen. So kann David jemand Mächtigerem/Stärkerem gegenüberstehen, wie beispielsweise in 1.Sam 17 als junger Hirte mit seiner Steinschleuder in der Konfrontation dem hünenhaften, schwer bewaffneten Goliat. Im Verlauf der Geschichte verliert er die Gunst von König Saul, und dieser möchte ihn töten. David ist auf der Flucht, Saul verfolgt ihn. Zweimal bietet sich für David die Möglichkeit, den, der ihm nach dem Leben trachtet, zu töten (1.Sam 24; 1. Sam 26). Beide Male tut er es nicht und hält dafür auch sichtbare Zeichen bereit (Zipfel des Mantels, Speer und Wasserkrug), die seine Anerkennung des gesalbten Königs bezeugen. Er führt keinen „Präventivschlag“ aus und macht durch die Zeichen deutlich, dass er die Feindschaft Sauls nicht erwidert.
Im Gebet 2.Sam 22 ist David auch zuerst machtlos seinen Feinden ausgeliefert und wird dann von Gott gerettet. Es bleibt aber nicht nur bei der Rettung, Gott ermächtigt David, stellt ihn auf eine Anhöhe, macht seine Füße schnell und sicher und lehrt ihn, zu kämpfen (2.Sam 22,35). So von Gott ermächtigt und gerüstet, erzählt der poetische Text weiter, wie David gegen seine Feinde vorgeht, sie verfolgt und vernichtet. Er wird in diesem Text vom Opfer zum Täter. David steht auch auf der Seite der Angreifer und Belagerer, also auf der Seite der Macht. In 2 Sam 8 werden seine erfolgreichen Kriege gegen unterschiedliche Völker angeführt. Er unterwirft sie und erweist sich dadurch als König. Es heißt, dass Gott bei allem an seiner Seite war. Der Umgang mit den moabitischen Kriegsgefangenen lässt David aber aus unserer Perspektive heute als unmenschlich und willkürlich erscheinen. Immer wieder wird in den Erzählungen rund um David durch das Eingreifen kluger Frauen größere Gewalt verhindert. So verhindert die Initiative Abigails, dass David Blutschuld auf sich lädt (1.Sam 25), die weise Frau von Abel-Bet-Maacha kann die Belagerung der Stadt verhindern (2.Sam 20) und die weise Frau von Tekoa kann David durch einen diplomatischen Trick gemeinsam mit Joab dazu bewegen, Abschalom nicht weiter mit dem Tod zu bedrohen (2.Sam 14).
Auch als „unbeteiligter Dritter“ kommt David in den Texten vor. Bei der Vergewaltigung Tamars durch Amnon (2.Sam 13), zwei seiner Kinder, würden sich zumindest heutige Lesende wünschen, dass jemand zugunsten Tamars eingreift, auch dem Opfer der Gewalt eine Stimme gibt und ihren Status, so weit möglich, wiederherstellt. David greift hier nicht ein, weder als Vater noch als Richter oder König. Seine Rolle in dieser Erzählung kann kritisch hinterfragt werden. Erlittene Gewalt findet sich nicht nur in den narrativen oder prophetischen Texten, sondern auch in den Psalmen. Im Gebet wird die eigene Gewalterfahrung als Klage oder auch Anklage vor Gott gebracht. Die Frage nach dem Sinn von Leid ist eine der großen Fragen der Menschheit. Die Bibel gibt verschiedene Erklärungsversuche (Tun-Ergehen-Zusammenhang, Strafe, Prüfung, Erziehung), ohne jedoch einen absolut zu setzen. Dass das „Warum“ der erlittenen Gewalt oder des erlittenen Unheils letztlich nicht beantwortet werden kann bzw. in der Rätselhaftigkeit Gottes mündet, zeigt sehr eindrücklich das Hiob-Buch.
Verschiedene Auslegungsstrategien
Die eine Ebene ist der Bibeltext, die andere die Interpretation des Textes. Die geschilderte Gewalt kann von Lesenden ganz unterschiedlich verstanden werden und damit auch ganz unterschiedliche Wirkungen haben (Gewalt legitimierend oder verhindernd, Solidarisierung mit den Opfern). Wie ein Text wahrgenommen wird, hängt eng mit dem Welt- und Gottesbild der Lesenden zusammen. Grundsätzlich kann die textlich dargestellte Gewalt positiv oder negativ wahrgenommen werden, oder sie kann als menschliche Grundkonstante gesehen und als solche anthropologisch, historisch, soziologisch oder psychologisch gedeutet werden. Bei der Darstellung göttlicher Gewalt kommt noch die Dimension der völligen Andersartigkeit oder Rätselhaftigkeit Gottes dazu. Diese unterschiedlichen Bewertungen und Interpretationsrichtungen sollen nun noch etwas näher ausgeführt werden.
Auslegungsstrategien bei göttlicher Gewalt (am Beispiel von Ex 14)
Geht man beispielweise von einem Text aus, der göttliche Gewalt schildert, wie z. B. dem Auszug aus Ägypten und Gottes Handeln am Schilfmeer, so kann der Text befreiungstheologisch als große Rettungstat gelesen und Gottes Handeln positiv beurteilt werden. Es kann darauf hingewiesen werden, dass sich gerade hier Gott als jemand zeigt, der gegen Unterdrückung ankämpft und Gerechtigkeit wiederherstellt. Oder es kann auch betont werden, dass der Text zeigt, dass der Mensch gerade nicht kriegerisch aktiv werden, sondern im Vertrauen auf Gott die Gewalt ihm überlassen soll. Eine problematische Verstehensweise (Hermeneutik) wäre die Nachahmungshermeneutik. Hier würde man einen Text, in dem Gott den Gegner vernichtend geschlagen hat, vereinfachend so deuten, dass der Mensch mit seinen Gegnern ebenso verfahren soll. Diese verkürzte Lesart wurde leider in der Geschichte immer wieder herangezogen, um Gewalt zu rechtfertigen und Menschen zu motivieren, in den Krieg zu ziehen. Die gewalt(tät)ige Beschreibung des Ereignisses am Meer kann aber auch historisch als Gegenentwurf zu altägyptischen Palastreliefs gesehen werden. Die ägyptischen Bilder vom siegreichen Pharao, von seinem mit Pferden hochgerüsteten Heer zeigen die Feinde darniederliegend und im Wasser treibend. Dieses Bildprogramm wird in Ex 14 erzählerisch genau in sein Gegenteil verkehrt. Wird die in biblischen Texten dargestellte göttliche Gewalt negativ bewertet, so kann der Text aus der Opferperspektive gelesen werden. Die Erinnerung an Gewalt kann auch ein widerständiger Akt sein.
Auslegungsstrategien bei menschlicher Gewalt
Wenn der Bibeltext von menschlicher Gewalt spricht, kommen andere Fragen auf, als wenn göttliche Gewalt geschildert wird. Bei textlich dargestellter menschlicher Gewalt ist zuerst zu fragen, ob es sich um erzählte Gewalt handelt oder um vorgestellte bzw. erhoffte Gewalt. Letzteres findet sich beispielweise immer wieder in den Psalmen. Ein lyrisches Ich beklagt die eigene Notlage und bittet Gott, es vor den Feinden zu retten und diese daran zu hindern, weiter gewalttätig zu handeln. Hier erhofft und delegiert die betende Stimme die Gewalt an Gott. Diese Gewaltschilderungen können positiv gewertet werden, im Sinne der Versprachlichung der eigenen Erfahrung, der Bearbeitung von Traumata oder auch als Schrei nach Gerechtigkeit. Die Texte rufen nicht Lesende auf, gewalttätig zu werden, sondern versuchen, Gott wachzurütteln, damit er für sein Versprechen von Gerechtigkeit einsteht. Aber natürlich können diese Texte auch negativ beurteilt werden, da explizite Gewaltbeschreibungen irritieren und gerade in der Gebetssprache („Fluchpsalmen“) oft Anstoß erregen.
Wenn von menschlicher Gewalt erzählt wird, kann diese positiv beurteilt werden im Sinne der Selbstverteidigung (David gegen Goliat) oder auch als Wiederherstellen der Gerechtigkeit (Strafe, Ausgleich). Wird die im Text dargestellte Gewalt negativ gewertet, so kann der Text auch mit der Brille der Gewaltopfer gelesen werden, als mahnende Erinnerung und zur Solidarisierung und Sichtbarmachung von Opfern. Der Text kann auch als Spiegel der menschlichen Verfasstheit gesehen werden. Der Mensch war und ist leider zu grauenvollen Taten fähig. Dieses Tabuthema führt so mancher Text drastisch vor Augen. Somit ist der Text eine Anfrage auch an die Lesenden und ihre Zeit. Auch wenn manche Bibelstellen „schwer verdaulich“ sind und man beim Lesen gerne Leerstellen mit einer Solidaritätsbekundung für die Opfer füllen möchte, so ist es doch auch heilsam, dass all das in der Heiligen Schrift vorkommen darf, sichtbar und benennbar wird. Nur so können Gewalterfahrungen auch aufgearbeitet werden. Gerade die Versprachlichung von Gewalt, sei es kriegerische oder häusliche, physische oder psychische, kann Lesenden nützlich sein, um eigene Erfahrungen zu verarbeiten und Worte dafür zu finden. Insofern können die Texte auch bei der Traumaverarbeitung helfen. Ein Aspekt, der bei der Interpretation sowohl göttlicher als auch menschlicher Gewalt immer mit bedacht werden muss, ist die Frage nach den Lesenden. Für wen ist der Text geschrieben? Sollen oder dürfen sich die Mächtigen mit dem Text identifizieren oder die Machtlosen? Ist der Text für (potenzielle) Gewalttäter und Gewalttäterinnen geschrieben oder für (potenzielle) Opfer von Gewalt?
Ein Resümee
Welche Strategie wird nun den Lesenden der Bibel nahegelegt, die Schwerter zu Pflugscharen zu schmieden (Jes 2,4) oder die Pflugscharen zu Schwertern (Joel 4,10)? Auf das komplexe Thema der Gewalt gibt die Bibel vielfältige Antworten. Auf welch unterschiedliche Arten von Gewalt erzählt wird, spiegelt die Vielfalt der Gewalterfahrung des Gottesvolkes wider. Manche Situationen verlangen Gottvertrauen, andere lassen bloß Erleiden und Anklage zu und wiederum andere brauchen aktives Eingreifen und Verteidigen. Eine einfache Handlungsanleitung für die komplexen Macht- und Gewaltverstrickungen lässt sich die Bibel nicht abringen. Und das ist gut so. Die Texte laden ein, den Umgang mit Macht und Gewalt zu reflektieren, sensibel für unterschiedliche Machtkonstellationen und deren Herausforderungen zu werden. Zudem geben die biblischen Texte auch die Möglichkeit, eigene Gewalterfahrungen zu verarbeiten, die eigenen Gefühle zu formulieren und möglicherweise auch den Zorn an Gott abzugeben.
Es wird deutlich, dass die Bibel kein bloßes „Harmoniebuch“ ist, sondern die Lebenswirklichkeit der Menschen spiegelt und dabei auch den Bereich von Krieg, Gewalt und Verletzung nicht ausblendet. Die damit verbundenen Gottesbilder können für Lesende heute irritierend sein. Doch genau diese können zu einer „nützlichen Verunsicherung“ führen. Texte, die Gott so ganz anders schildern, als wir uns ihn vorstellen, regen uns zum Nachdenken an und zeigen auf, dass Menschen, die sich auch ernsthaft mit Gott auseinandergesetzt haben, Gott anders sehen als man selbst.
[Dr. Magdalena Lass ist Assistenz-Professorin der alttestamentlichen Bibelwissenschaft an der Katholischen Privat-Universität Linz.]