Jesus, der Heiler - Rettende Berührung
08.01.2025 Die Heilungen Jesu im Umfeld antiker und heutiger Medizin
Gesellschaften definieren, was „gesund“ ist, und ärztliches Wirken reagiert darauf, wie man sich Krankheit erklärt. Im biblischen Weltbild sind Krankheit und Sünde, Heil und Heilung eng verwoben. Kann das heutige Perspektiven erweitern?
Da hilft nur noch Beten.“ Dieser Satz drückt heute ein schulmedizinisches Todesurteil aus. Im orientalischen Altertum war jedoch gerade Beten der Anfang einer Heilung. Denn durch Gebete, Beschwörungsformeln, Amulette und Opfergaben nahm man mit den Gottheiten Kontakt auf – in der festen Überzeugung, dass diese die Heilung bewirken könnten. Die Gottheiten hatten nach der Überzeugung der damaligen Menschen auch die Krankheit verursacht. All diese Praktiken – sie wurden begleitet von der Behandlung mit Heilkräutern, Gemischen, Salben oder manuellen Therapien – boten eine Handlungsmöglichkeit, in dieser Situation das Richtige zu tun.
Auch die Heilungen Jesu fanden in einem speziellen Wirklichkeitsverständnis statt. Im gemeinsamen frühjüdischen Verständnis des 1. Jh. verursachten Dämonen, die einen Menschen geradezu besetzten, und ein zerrüttetes Verhältnis zu Gott Krankheiten – nicht fntaasivoll geformte Krankheitserreger, wie man sie heute unter dem Mikroskop erkennen kann. Jesu Heilung setzte dabei folgerichtig zuerst dabei an, die Dämonen unschädlich zu machen oder am besten gleich auszutreiben. Er heilte Menschen damit von ihrem sozialen wie religiösen Kranksein: Sie erhalten erneut Teilhabe am gemeinschaftlichen Leben und können wieder Gegenüber Gottes sein. Vor diesem Hintergrund ist dieses Heilungshandeln plausibel.
Im griechisch-römischen Menschenbild dagegen sah man die Ursache von Krankheit im Missverhältnis der vier Körpersäfte zueinander: Blut, gelbe Galle, schwarze Galle und Schleim. Der griechisch-römische Arzt setzte mit der Heilung am stofflichen Körper an, er war Diagnostiker und Apotheker, konnte brennen, schneiden, schröpfen und zur Ader lassen. Dass auch der Heilgott Asklepios in diesem Bezugsrahmen heilte, zeigt aber, dass auch in der griechisch-römischen Medizin das Gebet verankert war. Eine religiöse Dimension und die Tempelmedizin waren mit den Ärzteschulen verbunden.
Bei allen Unterschieden zwischen dem griechisch-römischen Heilen und dem, was Jesus tat, waren dennoch fraglos beide Weisen in ihrem Umfeld „Medizin“. Welche Konstrukte von Heilung und Gesundheit bestehen heute? Die naturwissenschaftlich basierte Medizin, die etwa seit Mitte des 19. Jh. die Abläufe in den menschlichen Zellen als maßgeblich annimmt und die Vier-Säfte-Lehre ablöst, ist als Schulmedizin bestimmend. Gesundheit bedeutet zunächst die Funktionalität des Körpers. Forscherinnen und Forscher entwickeln laufend neue Möglichkeiten, in diesem Sinne heilend auf die Abläufe im Körper oder sogar auf genetische Voraussetzungen einzuwirken. In der naturwissenschaftlichen Medizin ist gleichzeitig an vielen Stellen Offenheit zu spüren, in dieses Körperkonzept zu integrieren, dass der Körper auf psychische Verfassungen und seine gesamte Umwelt reagiert: auf Lebensumstände wie Armut, Einsamkeit oder Arbeitslosigkeit, auf traumatische Erlebnisse wie Flucht oder Verlust von Angehörigen. Gleichzeitig können Freude, Zuversicht, Gottvertrauen, positive innere Bilder, Unterstützung und Liebe von Familie oder Freunden Genesungsprozesse beeinflussen und Kräfte mobilisieren. Seelsorger/innen sind in Kliniken und Pflegeheimen ein gewohnter Anblick. In einigen Häusern arbeiten Ärzte- und Pflegeteams heute auch mit alternativen Heiler/innen zusammen.
Angehende Mediziner/innen lernen heute in der Ausbildung, dass es zuerst wichtig ist, eine Beziehung zum Patienten aufzubauen und das Gefühl zu vermitteln, dass sich jemand kümmert – so wenig Zeit im medizinischen Alltag dafür auch sein mag. Die Versicherung, dass der behandelnde Arzt den Patienten sorgsam im Blick hat, beeinflusst den Behandlungsverlauf. Eine Beziehungsaufnahme ist auch in den Heilungserzählungen Jesu nachzulesen. Die frühchristlichen Erzählungen von Jesus dem Heiler sind spannend und gehen nahe durch das Vertrauen der Patienten – oder auch der Angehörigen – zum Heiler Jesus. Schon beim Überfliegen der Heilungserzählungen springt ins Auge, dass Jesus die Hilfesuchenden berührt: die Haut eines Aussätzingen (Mk 1), Ohren und Zunge eines Taubstummen (Mk 7), die Augen eines Blinden (Mk 8), den Rücken einer verkrümmten Frau (Lk 13). Zudem heißt es in Lk 4,40, dass er, als viele Kranke zu ihm gebracht worden waren, „die Hände auf einen jeden Einzelnen legte und sie gesund machte.“ Jesus wendet sich in den Heilungserzählungen dem einzelnen Menschen zu.
Die Heilungen Jesu in den Evangelien bedeuten mehr als nur eine körperliche Wiederherstellung: Sie erzählen von der Hoffnung auf ein Reich Gottes, einem Heils-Reich ganz geheilter Menschen. Sie erzählen natürlich von Gott, der so handelt wie Jesus, der Heiler: liebend, zugewandt, sorgend, berührend. Die Heilungen Jesu vollziehen sich durch den Glauben der Patienten und sie bedeuten für diese Frauen und Männer, nun im Frieden Gottes leben zu können („dein Glaube hat dir geholfen, geh in Frieden“, Mk 5,34). Sie werden als Rettung bezeichnet oder als Sündenvergebung. In Mk 2 sagt Jesus zu einem Gelähmten, dass „deine Sünden dir vergeben sind“.
Und noch etwas teilen die Erzählungen mit: Heilung sei eine Art Auferstehung mitten im Leben. Denn Formen des griechischen Verbs egeiro bezeichnen sowohl wie Jesus Menschen „aufrichtet“ – etwa den blinden Bartimäus oder die Schwiegermutter des Petrus oder auch in der Wendung „steh auf, nimm deine Tragbahre und geh“ – als auch seine eigene Auferstehung. Als gottgewollt wird das Leben des aufgerichteten, befreiten Menschen gezeichnet, der Zugang zu seiner Kraft hat. Was dieser Frieden und die Rettung und die Sündenvergebung für einen einzelnen Menschen bedeuten, bleibt offen. Dass das sogar nicht einmal die körperliche Genesung bedeuten muss, zeigt eine Information über den Apostel Paulus. Er muss selbst an einer auffälligen, für andere fast abstoßenden Krankheit oder einem Gebrechen gelitten haben. Im Galaterbrief bedankt er sich, dass die Galater - Gemeinde ihn dafür nicht verachtet, verabscheut und angespuckt hat (Gal 4,14). Dreimal habe er Gott auch gebeten, ihn davon zu heilen, sagt er in 2.Kor 12, aber Gott habe das nicht getan. So deutet er diesen „Pfahl im Fleisch“ als Willen Gottes, damit er nicht hochmütig werde. Gottes Botschaft zu seinem Leiden hört Paulus so: „Meine Gnade genügt dir; denn sie erweist ihre Kraft in der Schwachheit“ (12,9).
Der Begriff „ganzheitlich“ ist zwar modern, doch bezeichnet er treffend, was dann auch in der frühen Kirche unter Gesundheit verstanden wird: Jesus verkörpert dort das Ideal des Seelenarztes, denn die frühen christlichen Gemeinden verstanden ihre Ärzte vor allem als Seelsorger. Gebet und Meditation können bei manchen Menschen zweifelsfrei Ängste und Stress reduzieren. Kann das wiederum möglicherweise innere Heilungskräfte stärken? Was genau in unserem Körper-Netzwerk durch Botenstoffe geschieht, ist noch nicht ausreichend erforscht. Es ist ziemlich sinnlos, Heilungswunder anhand der naturwissenschaftlichen Medizin feststellen zu wollen. Denn was heute als unerklärbares medizinisches Wunder erscheint, kann in wenigen Jahren erklärbar sein, wenn Zusammenhänge möglicherweise weiter erforscht sind.
Wo ist die Verbindung zu de Heilungserzählungen Jesu? Auch wenn es in der exegetischen Forschung mehrheitlich als unbestritten gilt, dass der historische Jesus von Nazaret heilend gewirkt hat, können wir doch nicht genau wissen, was er getan und gesagt hat. Wir können oft nicht einmal die Krankheitsbilder identifizieren, die in den Evangelien mit „lahm“, „blind“, „verkrümmt“, „verdorrt“ gemeint sind. Und trotzdem lassen sich bei genauem Hinsehen oder beim zweiten, dritten und vierten Lesen der von unseren „Glaubensgeschwister-Vorfahren“ überlieferten Heilungserzählungen immer neue Details entdecken, die heutige Konzepte von Gesundheit oder Heilung erweitern können: Menschen, die Heilung wollen, gehen einen ersten Schritt auf Jesus zu; sie schreien laut, um auf sich aufmerksam zu machen; vier Männer bemühen sich über ein selbstverständliches Maß hinaus, ihrem Freund die Chance einer Linderung seines Leidens zu ermöglichen, als sie ihn sogar durch das Dach eines Hauses zu Jesus hinablassen (Mk 2); was bedeutet, dass Stumme reden, Krüppel gesund werden, Lahme gehen und Blinde sehen ... wenn doch auch jeder geheilte Körper altern und sterben wird?
Bei den Heilungserzählungen gibt es nicht die einzige, richtige Deutung. Sie kommunizieren geradezu mit ihren Leser/innen und laden ein, sie immer neu auszulegen und eigene Wahrheiten darin zu finden. „Wundert euch mit diesen Texten!“ Also: sich irritieren lassen, staunen, für andere Wirklichkeiten öffnen und bereit sein zu akzeptieren, dass unser westliches, aufgeklärtes Wirklichkeitsverständnis nicht immer das A und O ist. Letztlich ist Theologie auch immer eine Auseinandersetzung mit unserem Verständnis von Wirklichkeit.