Die antike Welt war von großen Vermögensunterschieden geprägt. Während eine kleine Minderheit in Muße ihren Wohlstand genießen konnte, führten die meisten Menschen ein hartes Leben, das von Entbehrungen und Unsicherheit geprägt war. Vermutlich lebten etwa zwei Drittel der Bewohner des ImperiumRomanum am Rande des Existenzminimums.
Im Fokus der Geschichte stehen traditionell die Eliten – Fürsten, Feldherrn, Politiker, Dichter oder Denker. Die kleinen Leute – die einfachen Arbeiter, die Armen und Bedürftigen – bleiben meist im Schatten. Erst in den letzten Jahrzehnten haben Altertumswissenschaftler begonnen, sich eingehender mit den Unterschichten in der klassischen Antike zu beschäftigen. Dabei stehen sie in der Regel vor einem Quellenproblem. Die literarischen Zeugnisse stammen von Autoren der Oberschicht, die sich selten für die ihre weniger begüterten Mitbürger interessierten. Und selbst wenn Philosophen sich mit der Armut befassten oder Dramatiker die Figur eines Bettlers auf die Bühne brachten, vermitteln uns diese Quellen stets nur den Blick der Elite auf die Unterschicht. Selbstzeugnisse von armen Menschen sind uns kaum erhalten. Sie haben keine literarischen Werke verfasst, und die wirklich Armen konnten es sich auch nicht leisten, eine Inschrift setzen zu lassen. Ausnahmen stellen Grafiti, wie sie etwa zu Tausenden in Pompeji erhalten sind, oder Papyri dar, die vor allem im heißen Wüstensand Ägyptens überdauert haben.
Auch im archäologischen Befund haben arme Menschen nur wenige Spuren hinterlassen. So gibt es aus klassischer Zeit kaum Darstellungen von Angehörigen der Unterschichten. Erst in hellenistischer Zeit kamen ausgehend von Alexandria – kleinformatige Darstellungen von Bettlern, Krüppeln und anderen Menschen am Rande der Gesellschaft in Mode. In den vorhandenen schriftlichen Quellen stellt zudem die verwendete Terminologie die Forschung vor Schwierigkeiten: Als πένης (penaes), “Armer”, wurde von vielen Autoren der Oberschicht jeder bezeichnet, der für sein Auskommen arbeiten musste, selbst wenn er über Besitz und eingeregeltes Einkommen verfügte. «Arm» waren daher alle, die nicht zur Oberschicht gehörten – Handwerker genauso wie Kleinbauern. Ein wirklich Armer wurde als ἄπορος (aporos) «mittellos» oder πτωχός (ptochos) «bettelarm» bzw. als inops «mittellos», egens oder indigens «bedürftig», bezeichnet.
Verbreitete Armut
Zu den Armen im weitesten Sinne zählte die Mehrheit der Menschen in der Antike. Sie lebten von der Hand in den Mund und konnten gerade mal ihre Grundbedürfnisse–Nahrung, Kleidung und Obdach – erwirtschaften. Es war ihnen in der Regel nicht möglich, zur Vorsorge ein kleines Vermögen anzusparen, das sie zumindest einigermaßen von den Wechselfällen des Schicksals unabhängig machte. Ihr Leben war daher von Unsicherheit geprägt. Nicht nur durch Ereignisse wie Kriege, Seuchen oder Naturkatastrophen konnten diese Menschen schnell in die Mittellosigkeit abrutschen, sondern auch durch persönliche Schicksalsschläge, Krankheiten, den Verlust der Arbeitsstelle oder Schulden.
Gerade im Rom der späten Republik und der Kaiserzeit konnte man durch das Zusammenspiel von niedrigen Löhnen und hohen Lebenshaltungskosten schnell in eine Abwärtsspirale geraten. So waren beispielsweise die Mieten in der Hauptstadt des Imperium Romanum extrem hoch. Juvenal spottete, dass man für die Summe, die man dort für ein finsteres Loch als Miete bezahlt, in der Provinz ein Haus kaufen könne. Bereits Caesar versuchte dem Mietwucher entgegenzuwirken, indem er in Rom den Mietzins für ein Jahr bis zu einer Höhe von2000 Sesterzen erließ. Wie hoch diese Summe ist, verdeutlicht der Umstand, dass ein einfacher Arbeiter in dieser Zeit einen Tageslohn von etwa drei Sesterzen verdiente. Schnell konnte es da passieren, dass jemand seine Miete nicht mehr zahlen konnte und wie jener fiktive Vacerra, den Martial schildert, mit seiner Familie und seinen wenigen, armseligen Habseligkeiten aus seinem Heim geworfen wird, um – wie der Dichter am Schluss andeutet – obdachlos unter einer Brücke zu landen.
Wie dachte man über Arme?
Als erstrebenswert kam die Armut nur vereinzelten Philosophen vor: Der bekannteste Proponent einer solchen Haltung war Sokrates. In seinen Erinnerungen an Sokrates schildert dessen Schüler Xenophon, dass der berühmte Philosoph nur schäbige Kleidung trug, ohne Schuhe umherlief und nur schlechte Nahrung zu sich nahm. Armut und Bedürfnislosigkeit propagierten ebenfalls die Anhänger des Kynismus. «Ich besitze nichts, um nicht besessen zu werden», soll deren Gründer, der Sokrates-Schüler Antisthenes, gesagt haben. Die Unabhängigkeit von materiellen Besitztümern war für die Kyniker der Weg, Glückseligkeit zu erreichen. Sie kleideten sich, wenn überhaupt, in einfache Gewänder, arbeiteten nicht, lebten von Almosen und schliefen auf der Straße oder in Säulengängen. Diogenes, einer der bekanntesten Vertreter dieser philosophischen Richtung, soll nur einen Mantel besessen und in einem Fass gelebt haben. Die meisten Menschen der Antike konnten mit dieser Haltung jedoch nur wenig anfangen.
Armut wurde in der Regel negativ bewertet, arme Menschen galten den Autoren der Oberschicht oft auch als moralisch inferior. Wenn jemand für seinen Lebensunterhalt hart schuften musste, wirkte sich das nach Ansicht der antiken Denker von Platon bis Cicero auch nachteilig auf ihre Tugend aus, und wenn jemand auf Almosen angewiesen war, wurde dies meist als ein Zeichen von Faulheit angesehen. Deutlich kommt dies auch in einem bekannten Grafito an der Fassade einer Bäckerei in Pompeji zum Ausdruck: «Ich hasse arme Leute. Wenn jemand etwas für nichts haben möchte, ist er ein Dummkopf. Erst muss er bezahlen, dann bekommt er die Ware.»
Einen grundlegenden Wandel erfuhr die Wahrnehmung und Bewertung von Armut dann aber mit dem Christentum. Jesus verurteilte den Mammon und das Gewinnstreben, wie besonders aus dem berühmten Gleichnis vom Nadelöhr (Mk. 10,25; Lk. 18,25; Mt. 19,24) deutlich wird. Auch manche der Kirchenväter (freilich nicht alle) mahnten zur Genügsamkeit und predigten Besitzlosigkeit. In der Spätantike wurde Armut immer mehr als Tugend betrachtet, und sie wurde auch grundlegend für die christlichen Klosterregeln.
Welche Hilfe erfuhren Arme?
Antike Gemeinwesen waren keine Sozialstaaten. Es gab weder Notstandshilfe noch Kranken-, Arbeitslosen- oder Pensionsversicherung. Dennoch existierten bereits im klassischen Athen einige Fürsorgemaßnahmen, die armen Menschen zugute kamen. Behinderte, die nicht über ein bestimmtes Mindestvermögen verfügten und keiner Berufstätigkeit nachgehen konnten, erhielten eine monatliche Rente, ebenso sind Renten für Kinder und die Eltern von gefallenen Kriegern belegt. Von diesen Initiativen, die nur für Bürger galten, konnten allerdings nur ein geringer Teil der armen Bewohner Athens profitieren. Das gleiche gilt für Rom. Es ist ein verbreitetes Vorurteil, dass die Armen in der Ewigen Stadt auf Staatskosten durchgefüttert worden wären und sich nur für panem et circenses interessiert hätten. Zwar hatte bereits Gaius Gracchus 123 v.Chr. armen Bürgern den Ankauf von Getreide zu einem Vorzugspreis ermöglicht, und Publius Clodius führte dann 58 v.Chr. Verteilungen von kostenlosem Getreide (frumentationes) ein. Von Gaius Iulius Caesar wurde die Zahl der Anspruchsberechtigten auf 150.000 Personen beschränkt. Nach welchen Kriterien diese exakt aus gewählt wurden, wissen wir jedoch nicht. Auf jeden Fall handelte es sich nur um freie, in Rom ansässige Bürger im Alter von über zehn Jahren, die allerdings nicht unbedingt bedürftig waren. Frauen, Fremde, Sklaven und Freigelassene wurden bei diesen Verteilungen nicht berücksichtigt, bei denen jeder Bezieher fünf modii Getreide monatlich erhielt. Das entspricht etwa 32,5 kg Getreide, mit denen weder ein physisch arbeitender Mann seinen eigenen Kalorienbedarf decken konnte, geschweige denn den einer ganzen Familie. Im 3. Jh. nach Christus wurden Getreidespenden nicht nur durch die Ausgabe von Brot ersetzt, sondern auch um die Verteilung von Olivenöl sowie später zusätzlich von Wein und Schweinefleisch ergänzt. Ein weiteres Hilfsprogramm waren die erstmals von Kaiser Nerva eingeführten und von dessen Nachfolger Trajan erweiterten Alimentarstiftungen, die Waisen und armen Kindern zugute kamen. Von einer tatsächlichen Armenfürsorge kann aber auch bei dieser Maßnahme, deren eigentliches Ziel die Erhöhung der Geburtenrate war, nicht die Rede sein. Wer – wie viele Bewohner des Imperium Romanum – durch dieses nur in Ansätzen vorhandene soziale Netz fiel und weder von seiner Familie noch von einem Patron unterstützt wurde, landete auf der Straße. Obdachlose und Bettler waren in Rom eine alltägliche Erscheinung, konnten aber nur auf wenig Hilfe zählen. Auch in diesem Zusammenhang brachte das Christentum mit seinem Konzept der caritas einen grundlegenden Wandel. Diese gebot, sich um alle Bedürftigen zu kümmern. In hagiographischen Schriften werden Bettler zum Prüfstein christlicher Nächstenliebe: Bekannt ist etwa die Geschichte vom heiligen Martin von Tours, der seinen Mantel mit einem Bettler teilte, der niemand anderes war als Jesus selbst.
[Dr. Josef Fischer, ANTIKE WELT 5/24]