"Guernica" - Sammelsurium des Horrors
Pablo Picassos "Guernica" erinnert an ein christliches Triptychon
[…] Picasso hat hier eines der berühmtesten Antikriegsbilder des 20. Jahrhunderts geschaffen, indem er den Bombenschrecken weniger Tage kubistisch-christlich auf die Leinwand sortierte. Kleiner historischer Exkurs: Am 26. April 1937, während des Spanischen Bürgerkriegs, griffen ausländische Unterstützer von Diktator Franco, konkret: Fliegereinheiten der deutschen Legion Condor sowie der italienischen Aviazione Legionaria, die baskische Kleinstadt Guernica an. Der erste Fliegerangriff mit Flächenbombardement, der auf die Zivilbevölkerung einer ganzen Stadt zielte, eine Art Blaupause für den deutschen Blitzkrieg gegen Polen. In wenigen Stunden zerstörten die aus dem Himmel fallenden Bomben nahezu die gesamte Stadt und töteten wahllos Zivilisten, Frauen, Kinder, Alte.
Pablo Picasso war zutiefst erschüttert von den Ereignissen in Guernica. Sein Bild entstand in den darauffolgenden Wochen – bewusst in den schwarz-weißen Grautönen der damals gängigen Pressefotografie gemalt – und sollte auf der Weltausstellung im Sommer 1937 in Paris sowie danach als internationale Leihgabe ein Kunstwerk mit Nachrichtenwert sein: Seht her, das richten die Faschisten in Spanien an, so sieht der von Propaganda umnebelte und als Ruhm und Ehre einer Nation gepriesene Krieg in Wirklichkeit aus. Komponiert hat Picasso sein Bild im Stil eines christlichen Altargemäldes, "Guernica" ist fast schon ein Triptychon: ein dreigeteiltes Bild mit starkem Zentrum und erläuternden Flügelmotiven links und rechts. Möglicherweise war Picasso inspiriert vom Isenheimer Altar von Matthias Grünewald, ein Kunstwerk von Anfang des 16. Jahrhunderts, das die Malerei in vielerlei Hinsicht prägte.
In Picassos "Guernica" steht auf der linken Seite eine Mutter, die ein totes Kind in den Armen hält. Der Vergleich mit der christlichen Pietà liegt sehr nahe. Und die Glühbirne, die nahezu mittig über der gesamten Szenerie hängt, ließe sich als Gottes allsehendes Auge deuten. Durch die Diagonale von totem (Christ-)Kind und Gottesauge fliegt zudem eine zum Himmel schreiende Friedenstaube. Anstelle des ans Kreuz genagelten Jesus zeigt die Bildmitte das von einem Speer durchbohrte Pferd sowie einen am Boden liegenden Menschen mit zerbrochenem Schwert in der Hand – sie stehen beziehungsweise liegen sinnbildlich für das unermessliche Leid der Opfer des Bombenterrors. Auf der rechten Seite wiederum lodern die sieben Flämmlein der Apokalypse; eine Person stirbt in den Flammen, eine andere versucht in gebückter Haltung dem Feuer zu entkommen. "Guernica" ist ein Sammelsurium des Schrecklichen. Eines, von dem der Künstler wollte, dass die Weltöffentlichkeit es wahrnimmt. Verstand Picasso sich womöglich selbst als die Lichtträgerin im Bild, die von rechts mit ausgestrecktem Arm und Öllampe in der Hand etwas Licht auf die Ereignisse wirft?
"Guernica" jedenfalls bekam eher schlechte Presse. Picassos kubistische Malweise, aber natürlich auch das Thema des Bildes waren nicht dazu angetan, dem Pariser Publikum auf der Weltausstellung den Sommer zu versüßen. Die Anerkennung kam erst mit den unzähligen Reisen, die das Bild in der Folge unternahm, und mit den Jahren. Heute hängt "Guernica" im Museo Reina Sofía in Madrid. Das Gemälde ist derart ramponiert, dass es nicht mehr an andere Museen ausgeliehen wird. Gesehen hat es gefühlt fast jede und jeder schon mal und wenn auch nur in den Nachrichten. Eine Kopie von "Guernica" hing bis 2021 bei den Vereinten Nationen in New York. […] Die Kunst kann dem Menschen seine von ihm erschaffene Wirklichkeit vor Augen führen. Lernen muss er daraus selbst.
[Text: Lukas Meyer-Blankenburg in chrismon.de am 25.02.2024]