Gleich vor Gott – und untereinander?
19.052024 Ambivalente Umgangsweisen mit Sklaverei im Neuen Testament - Teil 1
Von Prof. Dr. Christian Blumenthal, Lehrstuhlinhaber für Exegese des Neuen Testaments an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Bonn.
„Seht, wie sie einander lieben“, schrieb Tertullian über die jungen christlichen Gemeinden. Dennoch kam es auch hier nicht zur Abschaffung der Sklaverei. Das lag sowohl am historischen gesellschaftlichen Umfeld als auch an mangelnden Einflussmöglichkeiten und der Erwartung der nahen Wiederkunft Christi.
“Sklaven“ tauchen in den Gleichnissen Jesu mit großer Selbstverständlichkeit auf. Paulus stellt sich den Gemeinden in Philippi und Rom als Sklave Christi Jesu vor. Der 1. Petrusbrief mahnt die (Haus-)Sklaven, sich vorbehaltlos ihrem Herrn unterzuordnen. Diese „Kostproben“ machen nur zu deutlich: Sklaverei ist in der Mitwelt Jesu und des Neuen Testaments allgegenwärtig. Dabei weichen die sozialen Lebenswirklichkeiten von Sklavinnen und Sklaven ganz erheblich voneinander ab, und zwar in Abhängigkeit vom jeweiligen Einsatzgebiet und „Verwendungszweck“. So beobachtet etwa Peter Müller in seinem Kommentar zum Philemonbrief: „Sklaven, die bei ihren Herren höchst angesehen waren und deren Geschäfte führten, gehörten ebenso zum Sklavenstand wie Bergwerkssklaven, die unter erbärmlichen Umständen zu harter körperlicher Arbeit gezwungen wurden“. Ein die Gutsgeschäfte seines Herrn führender Sklave konnte sich einem „rechtlich freien, wirtschaftlich aber teilweise extrem abhängigen Kleinbauern (colonus), der auf demselben Gut eine Parzelle gepachtet hatte, sozial weit überlegen fühlen“.
So stark sich die Lebensbedingungen von Sklaven damals auch unterscheiden, so eindeutig bleibt Sklaverei als soziale Institution doch ein strukturelles Gewaltverhältnis. Ein Sklave ist vollkommen von der Gunst oder Willkür seines Herrn abhängig und in jeder Hinsicht dessen Eigentum. Das Leben eines Sklaven ist daher ganz wesentlich von existenziellen Unsicherheiten bestimmt: Als Besitz(stück) seines Herrn muss er dauernd damit rechnen, verkauft, vermietet oder verpfändet zu werden. Wenn Elisabeth Hermann-Otto festhält: „Die Abschaffung der Sklaverei war kein Thema für die Antike“, lässt sich diese allgemeine Aussage auch auf das Neue Testament anwenden. „Nein“ zur Sklaverei sagen weder die Jesustradition noch etwa Paulus oder der 1. Petrusbrief. Dies bedeutet im Umkehrschluss aber keineswegs, dass die neutestamentlichen Schriften den gesellschaftlichen Realitäten unkritisch gegenüberstehen oder ihre Gemeindeentwürfe auf einer rein spirituellen, imaginären Ebene ansiedeln. Im Gegenteil: Das Neue Testament gibt den Anspruch zu erkennen, die konkrete Gesellschaft „vor Ort“ gestalten zu wollen. Dieser Gestaltungsimpuls resultiert vor allem aus der Überzeugung, in der mit Christus angebrochenen Endzeit zu leben. Diese geglaubte Wirklichkeit soll im Alltag eine fassbare soziale Gestalt gewinnen.
Bei der Umsetzung dieses Grundanliegens gehen die einzelnen Schriften aber höchst unterschiedliche Wege: Während die Offenbarung an eine deutlich abgegrenzte Gegen-Gesellschaft denkt, tendieren Paulus oder der 1. Petrusbrief in eine andere Richtung. Sie möchten ihre Christus-Gemeinden in die gegebenen Gesellschaftsstrukturen kritisch-konstruktiv integrieren und diese Strukturen weiterentwickeln. Durch den Anspruch, die soziale Wirklichkeit zu gestalten („Hinausversetzung“), bewegen sich Jesus und die neutestamentlichen Entwürfe stets im Spannungsfeld zwischen Übernahme und Konservierung bestehender sozialer Strukturen sowie deren Neujustierung im Licht der endzeitlichen Wirklichkeit.
Jesus, die Sklaven und der Einbruch der Gottesherrschaft
Mehrfach erzählt Jesus Gleichnisse, in denen Sklaven eine mehr oder weniger bedeutende Rolle spielen. So entwirft etwa das Gleichnis vom königlichen Hochzeitsmahl in Mt 22,1-14 ein Bild, das den Zuhörern Jesu überaus vertraut ist: Ein König besitzt Sklaven, erteilt diesen Anweisungen, und die Sklaven führen diese Anweisungen unverzüglich aus. Stärker in der Rolle eigenständiger und eigenverantwortlicher Protagonisten agieren die drei Sklaven im Gleichnis vom anvertrauten Geld in Mt 25,14-30 (Lk 19,11-27). Während die ersten beiden Sklaven das Vermögen des Herrn vergrößern und entsprechend belobigt werden, gerät der dritte Sklave in einen erheblichen Konflikt mit seinem Herrn. Er hat das anvertraute Geld nur vergraben (geschützt), nicht aber vermehrt. Deswegen bestraft der Herr ihn extrem hart (Mt 25,28-30).
Je nachdem, wie man diese Gleichnisse versteht, zeigen sie Gott und Jesus als Sklavenbesitzer (Mt 18,23-35; Mt 24,45-51), und dies in einer für heutige Leserinnen und Leser befremdlichen Normalität. In dieser Selbstverständlichkeit spiegeln sich die gemeinantiken sozialen Verhältnisse aus dem Alltagsleben wider. Seine Mahnungen in Lk 12,35-48 und Lk 17,7-10 veranschaulicht Jesus unumwunden am Beispiel „Sklave“. Dabei weist er u. a. darauf hin, dass die Menschen in seiner Nachfolge wie Sklaven ihre Schuldigkeit zu tun haben, ohne dafür Dank erwarten zu können (Lk 17,10). Die Sklavengleichnisse bringen wiederholt die Vorstellung ein, dass es sich beim Verhältnis der Menschen zu Gott (Mt 21,33-42)
bzw. Jesus (Mt 25,14-29) um eine Sklaven-Herrn-Beziehung handelt. Diese Verhältnisbestimmung schreibt jene alttestamentlichen Spuren fort, welche das Verhältnis zwischen Gott und seinem Volk Israel als Gottessklaventum denken.
Dadurch, dass Jesus in seiner Verkündigung nahezu selbstverständlich von „Sklaven“ spricht, zementiert er gewissermaßen beiläufig gängige soziale Strukturen in Israel. Wenn er zudem das Gott-Mensch-Verhältnis wiederholt als Herr-Sklave-Zuordnung vor Augen stellt, trägt er starke ungleichseitige Abhängigkeitsstrukturen in die Beziehung zwischen Gott und den Menschen ein. Zur gleichen Zeit aber lässt er in seiner zentralen Botschaft von der Gottesherrschaft keinen Zweifel daran aufkommen, dass er mit seiner Verkündigung und seinem Handeln soziale Ungerechtigkeiten tatsächlich reduzieren will. Mit ihrer Grundoption für die Armen, Ausgestoßenen und Menschen an den Rändern der Gesellschaft ist die jesuanische Konzeption der Gottesherrschaft eminent gesellschaftskritisch. Dabei macht Jesus klar: Die Gottesherrschaft mit ihrem alternativen Gesellschaftsentwurf ist keine zukünftige oder ferne Utopie. Er erhebt in Mt 12,28 und Lk 11,20 den Anspruch, dass die himmlische Gottesherrschaft in seinen Dämonenaustreibungen im Hier und Jetzt in die irdische Wirklichkeit einbricht und diese schrittweise zu verändern beginnt. In diesem neu entstehenden Heils- und Herrschaftsraum soll sich das Handeln und das Miteinander nicht an Ehre-, Macht- und Vorrangstreben orientieren; es soll sich vielmehr erheblich von den dominanten „irdischen“ Wertmaßstäben unterscheiden.
Gottes Herrschaft – immer auch sozial
Die Grundüberzeugung Jesu, dass die Gottesherrschaft im Hier und Jetzt Fuß fasst und auf eine gesamtgesellschaftliche Veränderung abzielt, schreiben Matthäus und Lukas fort. Für Lukas steht fest, dass die soziale Dimension der Gottesherrschaft auch nach Jesu Himmelfahrt auf der Erde erfahrbar ist, und zwar im Zusammenleben der Urkirche. Die sachliche Grundlage für diese Annahme bringt er in der Pfingstpredigt in Apg 2 ein: Gott hat seinen Geist an Pfingsten über die Menschen ganz unabhängig vom sozialen Status ausgegossen, sodass auch Sklavinnen und Sklaven ihn erhielten.
Einerseits konserviert dieser Verweis die sozialen Gesellschaftsschichten, spricht er doch ohne Umschweife von Sklavinnen und Sklaven. Andererseits überwindet er aber auch die so alltäglichen gesellschaftlichen Schranken: Gott lässt mit dem Ausgießen seines Geistes eine Gesellschaft von Gleichen entstehen, und Lukas zeigt die Urkirche in Jerusalem als egalitäre Sozialgemeinschaft (Apg 4,32-37). Eine solche Gemeinschaft ist in den Augen des Lukas allerdings überaus zerbrechlich. So fordert er die Menschen in der Jesusnachfolge auf, ihr Miteinander dauerhaft am erreichbaren (!) Ideal einer egalitären Sozialgemeinschaft auszurichten, in welcher die gesellschaftlichen Unterschiede zwischen Sklaven und Freien de facto keine Rolle mehr spielen.
Matthäus wiederum ist darauf bedacht, die starke asymmetrische Abhängigkeit der Menschen von ihrem Herrn Jesus von jener Willkür zu befreien, welche das Alltagsleben von Sklaven so massiv bestimmt. Dieser Vorstoß zeigt sich eindrucksvoll in der Endgerichtsschilderung in Mt 25,31-46. Indem Jesus dort wiederholt die Kriterien benennt, an welchen sich der königliche Richter orientieren wird, schließt er willkürliche Entscheidungen in diesem Endgericht aus. Die Entscheidungskriterien liegen rechtzeitig offen und sind den Menschen in der Jesusnachfolge bekannt. Zudem balanciert Matthäus in seiner gesamten Erzählung die beiden Größen von göttlicher Gerechtigkeit und Barmherzigkeit aus. Das Wissen um Barmherzigkeit und Vergebungsbereitschaft entschärft die Handlungsaufforderung der Endgerichtsschilderung nicht, macht sie aber lebbar.
Nächsten Mittwoch folgt Teil 2