Gleich vor Gott – und untereinander?
26.06.2024 Ambivalente Umgangsweisen mit Sklaverei im Neuen Testament Teil 2
Von Prof. Dr. Christian Blumenthal, Lehrstuhlinhaber für Exegese des Neuen Testaments an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Bonn.
Paulus: die eigene Berufung erhalten
In 1 Kor 7 beschäftigt sich Paulus mit Fragen rund um Ehe und Ehelosigkeit und führt in 7,17-24 einen Grundsatz an, den er variiert in diesen acht Versen gleich dreimal wiederholt: „Jeder möge in der Berufung bleiben, in der er berufen wurde“. Diesen Grundsatz entfaltet der Apostel unter ethnischer, sozialer und sexueller Perspektive (Gal 3,28). Im Hinblick auf Sklaven stellt er heraus: „Wurdest du als Sklave berufen, nicht soll es dich kümmern; sondern wenn du auch freiwerden kannst, nutze es mehr“. Die Forschung diskutiert die Frage, inwieweit Objekte für „es“ gedanklich zu ergänzen sind (z.B. … nicht soll die Sklaverei dich kümmern? Oder die Freiheit?). Bei allen Unsicherheiten in dieser Frage kann man der Aussage doch folgende Grundaussage entnehmen: „Die Knechtschaft des Sklaven ist für das Heil genauso bedeutungslos wie die Freiheit der Freien. Die wahre Freiheit ergibt sich aus der Bindung an den Herrn, die den Sklaven als ‘Freigelassenen’ und den ‘Freien’ als Sklaven erscheinen lässt“ (Helmut Merklein). Gerd Häfner spitzt zu: „Wer hofft, in den unumstritten authentischen Paulusbriefen eine kritische Haltung zur Sklaverei zu finden, wird enttäuscht“.
Die paulinische Forderung, jeder möge in seinem „weltlichen“ Stand bleiben, impliziert zwei gegenläufige Bewegungen im Umgang mit sozialen und rechtlichen Statusunterschieden. Einerseits stuft diese Forderung den rechtlichen und sozialen Status als bedeutungslos für den Empfang des endzeitlichen Heils ein; andererseits wirkt sie gerade mit diesem Vorstoß status-konservierend. Einerseits soll die Überzeugung Hoffnung stiften, dass Gott sich in seinem Heilshandeln nicht an irdischen Status und Standesunterschieden orientiert. Die einzige relevante Größe ist die Bindung an Christus, die alle rechtlichen, sozialen und ethnischen Unterschiede überwindet und alle Menschen „in Christus“ eins sein lässt. Andererseits erweist sich diese tröstliche Botschaft als missbrauchsanfällig, insbesondere, wenn man sie aus der konkreten Kommunikationssituation isoliert.
Paulus selbst lebt in der Überzeugung, dass mit Jesus Christus die Endzeit definitiv angebrochen ist. Die Wiederkehr des auferstandenen Herrn steht für ihn unmittelbar bevor, und mit dieser geht eine universale Neuaufstellung des gesamten Kosmos unter der Herrschaft Gottes einher (Kor 15,23-28). Nach Ansicht des Apostels sind er, seine Mitarbeiter/innen sowie seine Gemeinden bereits gegenwärtig berufene Heilige „in Christus“. Würde man seine Forderung zum Statusverbleib aus dieser Gegenwartsbeurteilung und akuten Heilshoffnung herauslösen, könnte diese Forderung schnell als „billige“ Vertröstung oder gar als (biblische) Rechtfertigung sozialer Statusunterschiede missbraucht werden.
Die Umgangsweise des Paulus mit Sklaverei spiegelt auch seine begrenzten Gestaltungsmöglichkeiten wider. Damit will ich dem Apostel nicht „unterstellen“, dass er nur aufgrund dieser begrenzten Möglichkeiten nicht „Nein“ zur Sklaverei sagt. Soll aber die neue Wirklichkeit „in Christus“ eine soziale Gestalt „vor Ort“ gewinnen, etwa in Thessaloniki, Philippi oder im Haus des Philemon, ist der Apostel unbedingt auf Kooperationspartner angewiesen. Wie gezielt er seine teilweise nur geringen Gestaltungsspielräume nutzt, zeigt sich am Umgang mit dem Sklaven Onesimus im Philemonbrief. Der Apostel fordert den Sklavenhalter und Hausvorstand Philemon dazu auf, in seinem Sklaven Onesimus den Bruder zu sehen, und zwar sowohl „im Herrn“ als auch „im Fleisch“, d. h. vollumfänglich, dauerhaft und in allen Lebensbereichen. Einerseits konserviert die Forderung, den Sklaven Onesimus als geliebten Bruder anzunehmen, die Institution Sklaverei und bahnt ihr einen Weg hinein in die neue Wirklichkeit „in Christus“: Auch in einem „christlichen“ Haushalt hat Sklaverei einen Platz und beeinflusst damit auch in dieser Endzeit das alltägliche rechtliche Miteinander der „berufenen Heiligen“. Andererseits mutet Paulus nicht nur Onesimus zu, Sklave zu bleiben, sondern erwartet von Philemon gleichermaßen, die gesellschaftlichen Konventionen im Umgang mit Statusunterschieden gänzlich zu überwinden. Paulus ist darauf angewiesen, dass Philemon als christlicher Sklavenhalter den vorgeschlagenen Weg mitgeht. Nur dann wird es für den Sklaven Onesimus möglich, seine neue Existenz als Getaufter in seinem konkreten Alltag tatsächlich zu erleben. Darüber hinaus macht der Philemonbrief ebenso deutlich, dass die Gemeinde „in Christus“ keine hierarchiefreie Zone ist. Paulus macht mit seinem Tonfall unmissverständlich klar, dass er eine sehr weitgehende Weisungsbefugnis für sich beansprucht. Im Hinblick auf die rhetorische Strategie dieses Paulusbriefes fragt Gerd Häfner zugespitzt: „Wie unverschämt darf ein Apostel sein?“ (Anstößige Texte, 181) und resümiert: „Paulus mag für unseren
Geschmack sehr weit gegangen sein. Aber ein Apostel, der seine Interessen nachdrücklich durchsetzt und einen ungeschönten Einblick in frühchristliches Leben gibt, hat uns vielleicht mehr zu sagen als ein unangreifbarer Säulenheiliger“ (ebd. 184).
Beunruhigende Gleichzeitigkeit
Im Philipperbrief bringt Paulus seinen Autoritätsanspruch mit der Selbstbezeichnung „Sklave Christi Jesu“ höchst mehrdeutig zum Ausdruck. Er etabliert einen spannungsvollen-doppeldeutigen Sklavenbegriff. Dieser Begriff vereint in sich so gegensätzliche Facetten wie radikale Unterordnung, asymmetrische Abhängigkeit, Zugehörigkeit, Selbstbestimmung, gemeindliche Autorität und Christuskonformität. Diese Gegensätze verschärft Paulus und bringt sie in seinem Sklavenbegriff in einer spannungsgeladenen und beunruhigenden Gleichzeitigkeit zur Geltung. Der Sklave Paulus erlebt sich als absolut abhängig und sieht sich als „Besitzstück“ des Kyrios; zur gleichen Zeit weiß er sich ganz selbstbestimmt und leitet aus seiner Christus-Zuordnung einen immensen Autoritätsanspruch gegenüber der Gemeinde in Philippi ab.
Versklavt – eine Anfrage an die Konstruktion von Männlichkeit
Der ambige oder polare Sklavenbegriff setzt sich hintergründig auch mit dem Thema „Männlichkeit“ auseinander, welches gesamtgesellschaftlich überaus bedeutsam und allgegenwärtig war. In der hellenistisch-römischen Gesellschaft musste „Männlichkeit“ durch Selbstbestimmung und Herrschaft erworben werden. Von daher erfuhren sich männliche Sklaven durch ihren Sklavenstatus in ihrer „Männlichkeit“ massiv eingeschränkt. Unabhängig von ihrem sozialen Stand waren sie gänzlich von ihrem Herrn abhängig und diesem völlig ausgeliefert. Im Horizont dieser Alltagserfahrung läuft Paulus durch seine Selbstvorstellung als Sklave in Phil 1,1 Gefahr, seine „Männlichkeit“ und damit seine Reputation erheblich zu gefährden. Da er seinen Sklavenbegriff aber doppeldeutig anlegt und in ihm auch Aspekte von Selbstbestimmtheit und gemeindlicher Autorität verankert, hilft ihm dieser Begriff wiederum dabei, seine „Männlichkeit“ zu festigen. Die demonstrierte Männlichkeit wiederum stärkt seine Autorität und erhöht die Überzeugungskraft seiner brieflichen Mitteilung.
Der dritte und letzte Teil folgt am kommenden Mittwoch