Im Alten Orient maß man die Zeit anhand der Regierungsjahre der Könige. Die „Bücher der Könige“ in der Bibel erzählen von den Regenten in Israel und Juda – chronologisch und je mit Angabe ihrer Regierungszeit. Aber: Die ganze innere Chronologie passt nicht! Und sie stimmt auch nicht wirklich mit Ereignissen außerhalb der Bibel oder Ausgrabungsergebnissen überein. Haben sich die Autoren getäuscht?
Die chronologischen Angaben im Endtext der Königsbücher
Nichtsdestotrotz präsentiert sich der finale Text der Königsbücher als eine chronologisch geordnete Aneinanderreihung von Regenten. Im Text wird außerdem sehr viel Wert darauf gelegt, die Reiche Israel und Juda miteinander in Verbindung zu setzen. Der Beginn der Regentschaft eines Königs wird an die Zahl der Regierungsjahre des Königs im Nachbarreich angelehnt („König X wurde König im N. Regierungsjahr von König Y“). Diese Verbindung ist in beide Richtungen – also Juda mit Israel und Israel mit Juda – gegeben. So werden beispielsweise im Kapitel 15 des ersten Buches der Könige die Regierungsjahre von Jerobeam (Israel) und Abija (Juda), Jerobeam (Israel) und Asa (Juda) sowie Nadab (Israel) und Asa (Juda) miteinander verglichen und chronologisch angeordnet: „Im achtzehnten Jahr des Königs Jerobeam, des Sohnes Nebats, wurde Abija König von Juda [...] Im zwanzigsten Jahr Jerobeams, des Königs von Israel, wurde Asa König von Juda [...] Nadab, der Sohn Jerobeams, wurde König von Israel im zweiten Jahr des Königs Asa von Juda“.
Der biblische Text gibt nur Auskunft über die Reihenfolge der Herrschaft der vier Könige und nicht über die historische absolute Datierung ihrer Regierung: Die somit entstandene relative Chronologie ist zwar verwoben, aber korrekt. Um diese relative Chronologie – König X regierte vor oder nach König Y – in eine absolute Chronologie – also König X regierte vom Jahr A bis Jahr B und König Y vom Jahr C bis Jahr D – zu verwandeln, bedarf es allerdings eines Anhaltspunkts innerhalb der assyrischen oder der babylonischen Chronologie. Diese liefern ab dem 8. Jh. vC praktisch sichere absolute chronologische Datierungsgrundlagen. Die Assyrer haben uns eine lückenlose Jahrestabelle ihrer Könige und Würdenträger für die Zeit zwischen 910 und 649 vC hinterlassen – eine sogenannte Eponymen-Liste. Die Jahresangaben dieser Liste sind standardisiert, sodass es möglich ist, eine exakte relative Chronologie zu rekonstruieren. In dieser Liste wird außerdem festgehalten, dass im Jahr des assyrischen Königs AssurDan III. eine Sonnenfinsternis stattfand. Daraus ergibt sich das gesicherte absolute Datum des 15. Juni 763 vC. Durch das Hinzuziehen von assyrischen, babylonischen und ägyptischen Quellentexten sowie unter Berücksichtigung von anderen klassischen Quellen (wie dem Kanon des griechischen Astronomen Ptolemaios) ist es möglich, eine exakte Chronologie der ersten Hälfte des ersten Jahrtausends zu rekonstruieren. In diese Chronologie lassen sich außerbiblisch genannte Könige von Israel und Juda relativ einfach eingliedern.
Dabei sind natürlich die Analyse und die Auswertung des standardisierten Rahmens der biblischen Textpassage zum jeweiligen König von großer Bedeutung. Der biblische Text ist schließlich zu vielen dieser Könige die einzige Quelle, die wir besitzen. Zuerst wird darin das Jahr der Thronbesteigung eines Königs in Zusammenhang mit dem Regierungsjahr des Königs im Nachbarland angeführt. In der Folge wird festgehalten, wie lange die Herrschaft dauerte und schließlich wird eine Beurteilung des Königs nach den religiösen Vorschriften des Deuteronomiums angegeben. Im Abschluss können auch Angaben zu anderen Quellen, Informationen zum Tod des Königs und zum Nachfolger, auftauchen. Bei den Königen von Juda wird auch der Name der Königsmutter genannt, was möglicherweise auf eine besondere Regierungsrolle schließen lässt.
Relative und absolute Chronologie der Königsbücher: die Probleme
Trotz dieser zum Teil sehr präzisen Informationen führt eine einfache Gegenüberstellung der Könige von Israel und Juda zu massiven chronologischen Differenzen, die unmöglich alle nach dem gleichen Rechensystem gelöst werden können. Sie sind auch innerhalb der biblischen Chronologie nicht miteinander zu vereinbaren. In der Folge ist es sehr schwierig, die biblische relative Chronologie eins zu eins mit der assyrischen absoluten Chronologie abzugleichen und auf diese Weise eine fertige Liste von israelitischen und judäischen Königen mit der Jahresangabe ihrer Regentschaft herzustellen.
Mit hoher Genauigkeit lassen sich Eckdaten festlegen, wie die Notiz des geteilten Reiches in Nord und Südreich (926 bzw. 930 vC), die Eroberung Samarias durch die Assyrer (722/721 vC) und die Eroberung Jerusalems durch die Babylonier (587/586 vC). Trotz der im Laufe der letzten hundertfünfzig Jahre unternommenen Versuche, die unterschiedlichen Chronologien miteinander in Einklang zu bringen, bleiben alle anderen Zeitangaben unbefriedigend. Die Probleme sind dabei mannigfaltig:
1. Es ist zunächst durchaus möglich, dass im Laufe der Textüberlieferung Abschreibe- oder gar Rechenfehler passiert sind. Diese sind heute nicht mehr erkennbar und können nicht korrigiert werden.
2. Überdies wurde sehr wahrscheinlich nicht immer mit den gleichen Kriterien gemessen. Manchmal wird z. B. die Zeit einer Mitregentschaft berechnet, manchmal nicht.
3. In literarischen Darstellungen, die häufig standardisierte Formulierungen verwenden und ebenso häufig musterhafte und paränetische (ermahnende) Elemente einbauen, sind Zahlenangaben immer problematisch. Sie können durchaus abgerundet oder gar symbolisch verwendet werden.
4. Dadurch, dass es in den Beschreibungen der verschiedenen Könige immer auch um eine Wertung geht, kann man natürlich nicht ausschließen, dass die Kreise der Verfassenden die Regierungszeit absichtlich kürzer oder länger angegeben haben, um die Wirkung des jeweiligen Königs zu stärken oder zu schmälern. Fälle von damnatio memoriae sind ebenfalls nicht auszuschließen. Heute sind solche Veränderungen nicht mehr auszumachen und führen deshalb zu unlösbaren Problemen.
5. Eine weitere große Herausforderung hängt möglicherweise mit der unterschiedlichen Beschaffenheit der Kalender von Juda und Israel zusammen. In beiden Fällen handelt es sich um einen Mondkalender. Um das Mondjahr mit dem 11 Tage längeren Sonnenjahr in Einklang zu bringen, fügte man immer wieder Schaltmonate ein. Diese Einschaltungen waren selten standardisiert geregelt: Normalerweise entschied der König per Dekret, Schaltmonate einzufügen (Hammurabi, Nabonid, Kyros und Kambyses folgten dieser Praxis). Man kann daher nicht ausschließen, dass auch die Könige in Israel oder Juda unabhängig voneinander von dieser Befehlsgewalt Gebrauch machten. Erst als in persischer Zeit das babylonische System in der gesamten altorientalischen Welt akzeptiert wurde, setzte sich ein 19JahrRhythmus mit der Einschaltung von 7 Schaltmonaten durch. Ob, wann und wie oft der Kalender von Israel und Juda durch Schaltzeiten geändert wurde, wissen wir heute nicht.
6. Noch schwieriger zu lösen ist das Problem des Jahresbeginns. Israel und Juda standen regelmäßig entweder unter dem kulturellen Einfluss von Ägypten oder von Assur/Babylon. Nun begann das Jahr in Ägypten im Frühjahr, während das Jahr in Assur/Babylon im Herbst anfing. Die unterschiedlichen Angaben, die daher in den Königsbüchern zustande kommen, zu vereinheitlichen, ist unmöglich.
7. Auch die Tatsache, dass in der Hebräischen Bibel von jedem König die genaue Anzahl der Regierungsjahre angegeben wird, hilft nicht dabei, diese komplizierte Angelegenheit zu lösen. Im Gegenteil, dies führt zu einer weiteren unlösbaren Problematik. Denn das erste Jahr der Regentschaft eines Königs kann gleichzeitig als letztes Jahr der Regentschaft seines Vorgängers gewertet werden. Daher könnte dasselbe Jahr zweimal gezählt werden. Es ist auch nicht auszuschließen, dass dies zweimal passiert, am Anfang und am Ende der Regentschaft. Die Differenz könnte somit bis zu vier Jahre betragen. Natürlich kann eine solche Problematik entweder nur am Anfang der Regierungszeit oder nur am Ende oder aber auch gar nicht vorkommen. In Listen von assyrischen und babylonischen Königen ist es außerdem oftmals üblich, dass Könige, die nur ein Jahr im Amt waren, gar nicht angeführt werden. Womöglich war dies auch in Israel und Juda der Fall. Wir wissen es nicht.
Kein Lösungsansatz, nur weitere Fragen
Die grundlegende Frage aber, die man sich stellen muss, wenn man sich mit den chronologischen Angaben in den Königsbüchern auseinandersetzt, betrifft die Urheberschaft der chronologischen Angaben. Gesichert ist, dass irgendwann in der Zeit vor dem Exil ein System zur Zählung der Regierungsjahre der Könige in Juda und Israel bestand. Dieses System wurde von den Autorenkreisen der Königsbücher grundsätzlich übernommen, jedoch wahrscheinlich adaptiert, korrigiert, verändert. Seit wann gab es dieses System? Wann wurde es erschaffen? Welche Quellen wurden dafür verwendet? Wer hatte die Autorität, es zu legitimieren? Welche Voraussetzungen muss man sich vorstellen? Diese und viele andere ähnliche Fragen müssen – zumindest derzeit – unbeantwortet bleiben. Wenn wir heute die chronologische Geschichte der Reiche Israels und Judas rekonstruieren wollen, sind wir jedoch von diesen Datierungsangaben abhängig. Wir haben schlicht nichts anderes! Der Versuch, diese Angaben in ein absolutchronologisches System einzufügen, ist zwar legitim, das Ergebnis liefert dennoch Jahreszahlen, die im besten Fall als Näherungswert zu betrachten sind.
[Prof. Dr. Simone Paganini lehrt Biblische Theologie an der RWTH Universität in Aachen.]