Ende 1949 erhielt Oskar Kokoschka den Auftrag, für das Londoner Stadtpalais des österreichischen Kunstsammlers Antoine Graf von Seilern ein großes Deckenbild zu malen. Seit Kokoschka 1938 aus Prag nach London emigriert war, gehörte Graf von Seilern zum Kreis seiner dortigen Freunde und Förderer. Im Januar 1950 begann Kokoschka mit der Ausführung des Gemäldes, das auf den Plafond der Eingangshalle montiert werden sollte. Er gab ihm den Titel “Apokalypse”.
Wie bei den Deckenmalereien des Barocks scheint sich die Saaldecke über dem Betrachter in den Himmel zu öffnen. Er blickt in ein gleißend helles Licht, das die Bildmitte einnimmt, um die herum die Komposition angelegt ist. Links erhebt sich ein steiler Berg, vor dessen grünem Grund sich eine Vielzahl von Figuren abzeichnet, unten Frauen an einem Ufer, darüber ein liegen der riesenhafter Mann, in der Mitte ein Harfenspieler, Kampfszenen und ganz oben ein Kreuz. Die Bedeutung der Figuren erschließt sich nicht unmittelbar, auch ist kein erzählerischer Zusammenhang zwischen ihnen auszumachen. Von rechts stürmen vier Reiter durch die Lüfte auf den Berg zu, begleitet von Blitzen, dunklen Wolken und sintflutartigem Regen. In ihnen lassen sich unschwer die vier Reiter aus Offb 6, deren Erscheinen Krieg und Tod ankündigt, erkennen. Noch während der Arbeit an dem Gemälde kam Kokoschka mit dem Auftraggeber überein, es um zwei flankierende Bilder zu ergänzen, so dass eine Art von Triptychon entstand. Für die Seitenbilder wählte er Motive aus den griechischen Mythen um die Fruchtbarkeitsgöttin Persephone und den Titanen Prometheus. Im Juli 1950 beendete er das nunmehr dreiteilige Werk, das er “Prometheus Saga” nannte. Mögen die Seitenbilder die Aussage des Mittelbildes auch unterstreichen, so ist doch dieses, Kokoschkas Apokalypse, formal und inhaltlich als eigenständiges Werk konzipiert. Kokoschka hatte in den Kriegsjahren, die er im Londoner Exil verbrachte, eine Reihe von Gemälden geschaffen, die er als „politische Bilder“ bezeichnete, vielschichtige Allegorien, mit denen er aktuelle politische Ereignisse bissig kommentierte. Er habe sie gemalt „in der Absicht, die Augen anderer zu öffnen dafür, wie ich den Krieg ansah“, heißt es in seiner Autobiografie (1971). Auch das Deckenbild “Apokalypse”, wenige Jahre nach Kriegsende entstanden, ist insofern „politisch“, als Kokoschka mit ihm gesellschaftliche Entwicklungen der Gegenwart in den Blick nimmt. In einem Brief vom Februar 1950 beschreibt er das gerade beendete Gemälde: „und rechts ziehen die 4 apokalyptischen Reiter auf, die aber wirklich furchterregend diesmal sind, wie es sich gehört in unserer Zeit.“
Geschichte des Bildes
Kokoschkas Arbeit an der “Prometheus Saga”, für die ihm Antoine Graf von Seilern (1901-1978) einen Atelierraum in seinem Stadtpalais zur Verfügung gestellt hatte, ist in rund 80 Fotografien, auf genommen von Lee Miller (1907-1977), dokumentiert. Sie zeigen ihn an einer speziell angefertigten hohen Staffelei, die ermöglichte, die Bilder so zu kippen, dass er sie von unten, aus der Perspektive des Betrachters, sehen konnte. Kokoschka fürchtete, dass das Triptychon, da in Privatbesitz, unbeachtet bleiben könnte, und überzeugte Graf von Seilern, es für die Biennale in Venedig 1952 auszuleihen. Als der Graf 1978 starb, hinterließ er seine Kunstsammlung, einschließlich der “Prometheus Saga”, der Courtauld Gallery in London. Das Werk ist seitdem selten gezeigt worden, und erst anlässlich der Kokoschka-Retrospektive 2018/19 in Zürich und Wien war es erstmals seit 1952 außerhalb Großbritanniens zu sehen.
Der Maler
Oskar Kokoschka (1886-1980) wuchs in Wien auf. 1904 ermöglichte ihm ein Staatsstipendium ein Studium an der dortigen Kunstgewerbeschule. Noch als Student erhielt er Aufträge der Wiener Werkstätte. Seine frühen Arbeiten gehören mit ihren ornamental wirkenden Linien dem von Gustav Klimt geprägten Wiener Jugendstil an, doch entwickelte er um 1910 eine eigene, expressive Bildsprache, die die Wiener Kunstkritik dazu veranlasste, ihn als „Oberwildling“ und „Klimttöter“ zu bezeichnen. Er suchte Anschluss an die künstlerische Avantgarde um die Berliner Zeitschrift Der Sturm und nahm Verbindung zur Vereinigung Der Blaue Reiter auf. Sein bekanntestes Gemälde dieser Jahre ist “Die Windsbraut” (1913), das ihn mit seiner Geliebten, Alma Mahler, zeigt. Ende 1914 meldete er sich zum Kriegsdienst. Von einer schweren Verwundung 1915 erholte er sich, war aber nach einem Granatschock im Jahr darauf nicht mehr einsatzfähig. 1919 erhielt er eine Professur an der Dresdner Kunstakademie, gab sie jedoch 1924 auf, um ausgedehnte Reisen durch Europa, Nordafrika und Kleinasien zu unternehmen. 1934 ging er nach Prag. Als seine Werke in Deutschland als „entartet“ verfemt wurden, malte er sich selbstbewusst im Porträt eines entarteten Künstlers (1937). 1938 beteiligte er sich an den Ausstellungen Twentieth Century German Art in London sowie Freie Deutsche Kunst in Paris. Noch im selben Jahr floh Kokoschka zusammen mit Olda Palkovská, seiner späteren Ehefrau, nach London. Dort engagierte er sich mehr denn je politisch und sozial, setzte sich u. a. für Flüchtlinge und Kriegswaisen ein und malte „politische Bilder“ wie “Das rote Ei und Loreley” (1941), in denen er die Appeasement-Politik der Westmächte kritisierte. 1953 ließ sich Kokoschka, seit 1947 britischer Staatsbürger, in Villeneuve am Genfer See nieder. Bis in die 1970-er Jahre arbeitete er unermüdlich. Die abstrakte Kunst lehnte er ab, er malte stets gegenständlich, denn Kunst müsse verständlich sein, sonst sei sie so „sinnlos wie die Existenz des Aestheten im elfenbeinernen Turm“. Zu seinem Œuvre gehören Porträts (u. a. Konrad Adenauer, 1966), ein umfangreicher Zyklus von Stadtansichten (u. a. Blick auf Ostberlin vom Springer-Hoch haus, 1966), Landschaftsbilder, Bühnenbildentwürfe und Grafikserien. Sein Leben lang war Kokoschka auch als Schriftsteller tätig; er schrieb Theaterstücke und Erzählungen (Spur im Treibsand, 1956) und äußerte sich in zahlreichen Essays zu Kunst und Politik.
Das Thema in der Kunst
Darstellungen der apokalyptischen Reiter aus der Offenbarung des Johannes sind nahezu ausschließlich in Bildzyklen, insbesondere in der Buchmalerei, erhalten. Die ältesten Beispiele finden sich in Apokalypse-Handschriften karolingischer Zeit (u. a. Trierer Apokalypse, 9. Jh.) und in den spanischen Beatus-Codices (10. Jh.). Während diese die Reiter in einem Bild zusammenfassen, widmen spätere Handschriften mitunter jedem ein eigenes Bildfeld (Bamberger Apokalypse, 11. Jh.; HaimoCodex, 12. Jh.). Die ersten drei Reiter sind durch die im Bibeltext genannten Attribute gekennzeichnet, der vierte durch die hinter ihm herziehende Unterwelt. Diese wird als Teufel oder auch als Höllenrachen dargestellt, doch kann auch der Reiter selbst Teufelsgestalt erhalten (Liber Floridus, 12. Jh.). Ungewöhnlich ist das Relief am Westportal der Reimser Kathedrale (13. Jh.), wo die Unterwelt als fünfter Reiter den anderen folgt. Berühmtheit erlangte der Holzschnitt Albrecht Dürers (1498), auf dem die drei ersten Reiter in geschlossener Reihe über die zu Boden stürzenden Menschen hinweggaloppieren, während der vierte, der Tod, im Vordergrund über den Höllenschlund springt, der gerade einen Bischof verschluckt. Dürers Komposition wurde Vorbild für spätere Bibelillustrationen, insbesondere Lucas Cranachs d. Ä. (1522) und Hans Holbeins d. J. (1523). In den folgenden Jahrhunderten wurde das Bildthema seltener gewählt. Erst seit dem späten 19. Jh. (Alfred Böcklin, Der Krieg, 1896) und vor allem im Kontext der Weltkriege des 20. Jh. wurde es wieder verstärkt aufgegriffen. Während Josef Weisz (1918), Ernst Ludwig Kirchner (1918) und Giorgio de Chirico (1941) in ihren Bildzyklen zur Apokalypse das Motiv der Reiter eher traditionell auffassen, verschmilzt Wassily Kandinsky die vier Figuren zu einer einzigen Form (Hinterglasbild, 1914). Max Beckmann gibt dem Thema einen persönlichen Bezug: Vor einem Fenster seiner Amsterdamer Wohnung liegt auf einem Tisch ein Buch mit einem Davidstern, während draußen die apokalyptischen Reiter vorbeijagen (Lithografie, 1942). Karl Rössing aktualisiert die Figur des vierten Reiters, indem er ihn mit schwarzer Uniform und Mörsergranate in der Hand darstellt (Holzschnitt 1948). Als mahnende Erinnerung an den Krieg wählte auch Georg Meistermann, als er beauftragt wurde, Glasmalereien für 1944 zerstörte Fenster im Rathaus von Wittlich zu entwerfen, das Motiv der apokalyptischen Reiter (1954).
Europa am Abgrund?
Es ist eine eigentümliche Welt, auf die die apokalyptischen Reiter zustürzen, ein Berg, bevölkert von Gestalten, die in auf den ersten Blick nicht durchschaubaren Zusammenhängen stehen. In einem Brief an den Kunsthistoriker Hans Maria Wingler (1951) gibt Kokoschka Hinweise zu ihrem Verständnis, beginnend mit: „Mitte unten Erd- oder Muttergöttin sitzend“ (1). Damit ist offensichtlich die im Wasser thronende Matrone gemeint, der sich von links Frauen mit Gefäßen (2) nähern, eine hat sich vor ihr niedergeworfen. Kokoschka hatte sich intensiv mit den Schriften Johann Jakob Bachofens (1815–1887) beschäftigt und dessen These eines „gynaikokratischen Weltalters“ aufgenommen, einer vorgeschichtlichen, nur in Mythen fassbaren mutterrechtlichen Kultur, die mit der Durchsetzung des „hellenisch-römischen Vaterprinzips“ untergegangen sei. Die Frauenfiguren am unteren Bildrand stehen für diese „Zeit der Muttervölker“. Darüber, bergaufwärts, repräsentieren zahlreiche männliche Gestalten die patriarchalischen Gesellschaften der Antike. Nicht alle Figuren sind eindeutig benennbar. Kokoschkas Äußerungen zu ihnen sind mehrdeutig, wohl um den Betrachter zu eigener Interpretation aufzufordern. In dem übergroßen liegenden Mann (3) sieht er sowohl den „Ur-Mann“ Adam, „schwer wie ein Erdkloß“, als auch Noach, ja sogar sich selbst, der sich am Ende des Lebens enttäuscht von der Welt abwendet. Den Harfenspieler (4), der sich gegen das helle Licht abzeichnet, nennt er David, aber auch Apollo. Die sitzende Figur (5) dahinter ist Vergil, Dichter der “Aeneis”. Ihm zuzuordnen ist die Gestalt des Aeneas (6), der seinen gelähmten Vater Anchises auf dem Rücken trägt, rechts unten, unter dem vorderen Reiter. In der Mitte des Berges sind zwei Kampfszenen (7) zu erkennen. Kokoschka erwähnt dazu Kain und Abel. Zwischen ihnen liegt ein umgestürztes Götzenbild, eine Anspielung auf die Erzählung vom Goldenen Kalb (8). Das obere Drittel des Berges nehmen Figuren ein, die Kokoschka als „Propheten, Seher und Zeugen“ (9) bezeichnet, darüber steht der „crucifixus“ (10). In einem Gespräch mit dem Kunstkritiker Josef Paul Hodin nennt Kokoschka die Figuren auf dem Berg „symbolische Gestalten der europäischen Kulturentfaltung“. Mit ihnen skizziert er, wie in Stichworten, ein am bivalentes Bild Europas, das für ihn „kein geografischer, sondern ein kultureller Weltteil“ ist. Dieses Europa, eine Welt der Männer, hat zwar große kulturelle Leistungen – abzulesen an Dichtern wie Vergil – hervorgebracht, doch bestimmen Gewalt und Krieg sein Schicksal, man tötet sich gegenseitig und hat sogar den Gesandten Gottes ans Kreuz geschlagen.
Und ihnen wurde gegeben die Macht zu töten
Die die Komposition dominierenden Reiter sind Vorboten des gewaltigen Unglücks, das Kokoschka auf Europa zukommen sah. Ihre Anordnung in einer Diagonalen, die Größenperspektive und die starke Untersicht erzeugen einen Eindruck von räumlicher Tiefe, Bewegung und Geschwindigkeit. Wie in Offb 6, 1-8 personifizieren die Reiter existenzielle Bedrohungen. Kokoschka schrieb an Hans Maria Wingler, es handele sich dabei, von oben nach unten, um Hunger, Krieg, Pestilenz und Tod. Doch deckt diese Erklärung nicht alles ab, denn bei genauerer Betrachtung fallen eigenartige Details auf. So hat der erste Reiter eine Zeitung in der Hand, und das Gesicht des dritten erinnert deutlich an Albert Einstein. Hier scheint der Einfluss des Schriftstellers Karl Kraus (1874–1936) auf. Kraus sah in der „geistigen Selbstverstümmelung der Menschheit durch ihre Presse“ eine der gesellschaftlichen Ursachen des Ersten Weltkriegs. In der Tragödie “Die letzten Tage der Menschheit” (1922) beschuldigte er die Presse, in unheilvoller Allianz mit den modernen Naturwissenschaften und dem Militär den Krieg heraufbeschworen zu haben. Genau diesen gefährlichen Dreierbund wollte Kokoschka als apokalyptische Reiter darstellen. Dementsprechend hatte er zunächst nur drei Reiter vorgesehen. Den vierten, „hoch oben im Himmel, klein“, fügte er nachträglich hinzu, wohl um mit der Vierzahl, wie auch mit den unter schiedlichen Farben der Pferde, den biblischen Bezug des Motivs zu verdeutlichen. Der erste Reiter (11) sitzt auf einem weißen Pferd, eine zusammengerollte Zeitung ist sein Kommandostab. Sein Raubtiermaul kenn zeichnet ihn als den „Herrn der Hyänen“, den mächtigen Pressemann aus Die letzten Tage der Menschheit, der im Epilog ausruft: „Durch die geheime Finte/zum Treubund rief die Tinte/die Technik und den Tod.“ Der zweite Reiter (12), auf einem rotbraunen Pferd, verkörpert das Militär, den „Tod“. Die todbringenden Waffen, die er schwingt, sind Schlangen, die „Tiere der Erde“ aus Off 6,8. Der dritte Reiter (13) schließlich repräsentiert die „Technik“. Seine gelbe Farbe ist eine Anspielung auf das Senfgas, die chemische Waffe, die in “Die letzten Tage der Menschheit” von dem Ingenieur Dr. Abendrot als „Lungenpestersatz“ gefeiert wird, mit dem sich die „chlorreichsten Siege“ erringen ließen. Kokoschka aktualisiert die Figur, indem er ihr die Züge Albert Einsteins verleiht, dem er eine Mitschuld an der Katastrophe von Hiroshima gab. Im Dezember 1945 beklagte er in seiner Bittschrift eines ausländischen Künstlers, dass die Atombombe, „die letzte Entwicklung angewandter Wissenschaft auf militärischem Gebiet, die Entwicklung der gesellschaftlichen Moral weit überholt“ habe. Der vierte Reiter, die blasse Gestalt in der Ferne, ist ohne erkennbare Attribute, doch bringt auch er, wie die an deren, den Tod.
[Von Ines Baumgarth-Dohmen M. A., freiberufliche Kunsthistorikerin]