Die 10 Gebote (עֲשֶׂרֶת הַדִּבְּרוֹת aseret ha-dibberot)
24.10.2024 Die historischen Hintergründe
Der Dekalog steht in einer sonderbaren Spannung: Einerseits ist er an Israel gerichtet, das aus dem Sklavenhaus Ägypten befreit wurde. Andererseits ist immer ein „Du“ angesprochen, jede und jeder Einzelne. Dabei ist ein großartiger ethischer Rahmen entstanden. Ein Blick in die Details.
Fremdgötterverbot ANOCHI – „ICH“ (bin der Ewige)
Ich bin der Herr, dein Gott.
Als die Tora zum ersten Mal durch ihr Portal auf dem Berg Sinai in unser Universum eintrat, war ihr erstes Wort ein ägyptisches Wort: Anochi, was „Ich“ bedeutet. Das Gebot entsteht im Rahmen der Vorstellung der Monolatrie, bei der die Verehrung eines bestimmten Gottes exklusiv eingefordert wird, andere Gottheiten aber durchaus existieren. Im Dekalog wird die Gottheit anderer Götter noch nicht infrage stellt, JHWH ist hier ein Gott neben anderen. Der Ursprung des Fremdgötterverbots liegt in der Praxis altorientalischer Vasallenverträge: Die Assyrer und Babylonier verlangten von ihren Vasallen die Anerkennung der Souveränität ihrer Gottheiten – was konkret die bedingungslose Unterwerfung unter den assyrischen bzw. babylonischen Großkönig und dessen Staatsapparat bedeutete. Israel hingegen soll allein die Souveränität des aus der Sklaverei befreienden Gottes JHWH anerkennen. Was ursprünglich eine Absage an die Götter Assurs und Babylons war, kann heute vielleicht als Absage an politische Unterdrückung jeglicher Art verstanden werden.
Bilderverbot LO JIHJEH – „nicht sei“
Du sollst keine anderen Götter haben neben mir.
Es ist unklar, ob der Dekalog das älteste Zeugnis für ein Bilderverbot im alten Israel ist oder ob dieses Vorläufer hat. Hier werden zunächst Kultbilder verboten: Götterdarstellungen von Himmelskörpern, Tieren und Pflanzen, wie sie archäologisch für die Bronze- und Eisenzeit in Palästina breit belegt sind. Problematisch ist die Vieldeutigkeit der Kultbilder. Die Götterdarstellungen tragen keine Namen und konnten von ihren Verehrern dann mit deren Gottheiten identifiziert werden. Eine Darstellung des Stiers als Symbol des Wettergottes konnte als Baal oder JHWH gedeutet werden. Israel verehrt im Goldenen Kalb nicht fremde Götter, sondern JHWH in Gestalt des Stierbildes und das war vieldeutig. Das Alleinstellungsmerkmal JHWHs besteht darin, dass er in keinerlei Bild zu fassen ist. Archäologisch fällt auf, dass zum Ende des 7. Jh. v.Chr. Götterdarstellungen auf den Stempelsiegeln Israel/Palästinas zugunsten reiner Namenssiegel tatsächlich nahezu vollständig verschwinden.
Namensmissbrauchsverbot LO TISSA’ – „nicht trage“
Du sollst den Namen des Herrn, deines Gottes, nicht missbrauchen.
Das Namensmissbrauchsverbot zielte ursprünglich nicht auf ein Verbot, den Namen Gottes auszusprechen. Dieses setzt sich im Judentum erst ab der hellenistischen Zeit durch. In exilischer Zeit stellte das Aussprechen des Gottesnamens kein Problem dar. Das Verbot hat vielmehr einen juristischen Hintergrund und zielt auf den Meineid (Lev 19,12) „ihr sollt nicht falsch schwören bei meinem Namen und so den Namen deines Gottes entweihen“. Formeln wie „Gott tue mir dies oder das, wenn …“ (1.Kön 2,23) drückten eine Selbstverfluchung im Falle des Falscheids aus.
Schabbatgebot SACHOR ET – „gedenke des“ (Schabbat)
Du sollst den Feiertag heiligen.
Den siebten Tag als Ruhetag gibt es vermutlich schon seit dem 8. Jh. v.Chr. Er hatte aber noch keinen Namen. Vermutlich bezeichnete in vorexilischer Zeit Schabbat den Vollmondstag am 15. eines Monats. In neuassyrischen Texten wird der Vollmonds tag šapatu bzw. šabatu genannt, und 2.Kön 4,23; Jes 1,13 sowie Klgl 2,6 nennen „Neumond und Schabbat“ nebeneinander. Erst mit dem Dekalog wird im Exil der Schabbat nun mit dem siebten Tag identifiziert und in der Identität Israels verankert. Eine vergleichbare Institution ist aus der Umwelt Israels bisher nicht bekannt. Auch den Griechen und Römern war der Gedanke eines wöchentlichen Ruhetages für alle – Sklaven und Fremde eingeschlossen – fremd. Der Schabbat ist das große kulturelle Geschenk, das Israel der Menschheit gemacht hat. Heute erscheint die Begründung in Ex 20 eher mythisch (Schöpfung, Gott vollendet in Ruhe am 7. Tag), die Begründung von Dtn 5 auf Basis der Goldenen Regel (weil Israel Sklave war, sollen alle ruhen dürfen) dagegen ethisch stark. Für den antiken Menschen dürfte es aber genau umgekehrt gewesen sein: Durch Gen 1 und Ex 20 wird der Schabbat in der Schöpfungsordnung verankert. Er wird Teil der Naturordnung und ist damit nicht verhandelbar.
Elternehrungsgebot KABED ET – „ehre den“
Du sollst deinen Vater und deine Mutter ehren.
Das Gebot der Elternehrung will nicht Kinder zum Gehorsam gegenüber ihren Eltern ermahnen, sondern dient dem Schutz der Alten: Wie auch in keilschriftlichen Zeugnissen zu finden, zielt es auf angemessene Altersversorgung und würdigen Umgang mit den Eltern. Das Gebot hat ältere kasuistische Vorläufer, z. B. Ex 21,15: „Wer seinen Vater oder seine Mutter schlägt, muss getötet wer den.“ Im Dekalog wird positiv die Fürsorge für die alten Eltern festgelegt. Auffällig ist, dass die Ehrung nicht nur dem pater familias gegenüber eingefordert wird, sondern dass dies für beide Elternteile gilt.
Tötungsverbot LO TIRZACH – „nicht morde“
Du sollst nicht morden.
Das hebräische Verb חצר, razach, ist 47 Mal im AT belegt. Es bezeichnet immer den Fall, dass ein Mensch einen anderen Menschen tötet. Wenn Gott tötet oder Tiere getötet werden, werden andere Verben verwendet, wie auch für das Töten im Krieg und bei der Todesstrafe. Dasselbe gilt für den Suizid, der hier nicht gemeint ist. Die Selbsttötung wird an keiner Stelle der Bibel ethisch verurteilt. Eine Unterscheidung zwischen vorsätzlicher und fahrlässiger Tötung ist aus den Belegen nicht zu erheben. Allerdings kann der Imperativ des Dekalogs sinnvollerweise nur die beabsichtigte Tötung im Blick haben. Von daher ist die Übersetzung „Du sollst nicht morden“ gerechtfertigt.
Ehebruchsverbot LO TIN’AF – „nicht ehebreche“
Du sollst nicht ehebrechen.
Wie schon im deutlich älteren Bundesbuch, ist der Familienstand der Frau maßgeblich: Es handelt sich nur um Ehebruch, wenn sie verheiratet oder verlobt ist (Die Frau bricht stets die eigene Ehe, der Mann jedoch nur die fremde). Das Deuteronomium entwickelt die Familiengesetzgebung zwar zum Schutz der Frau weiter - eine vergewaltigte Jungfrau darf nicht verstoßen werden - aber im Fall von Verleumdung trägt die Frau die Beweislast. Hintergrund ist, dass illegitime Nachkommen – und damit Erbberechtigte – in die Familie der Mutter hineingeboren werden, während Männer beim Ehebruch außerhalb der Familie zeugen. Daher der antike Fokus auf den Ehebruch der Frau. Es zielt auf Rechtssicherheit, nicht auf eheliche Treue im moralischen Sinne.
Diebstahlverbot LO TIGNOW – „nicht stehle“
Du sollst nicht stehlen.
Hier geht es um das ausnahmslose Verbot der Aneignung fremder Eigentümer, selbst wenn es aus ehrbaren Motiven geschehen mag. Mundraub fällt nicht darunter, Freiheitsberaubung/Menschenraub dagegen schon. Eigentumsdelikte sind alles andere als unbedeutend, sie berühren auf dramatische Weise eine tiefe Ebene des verantwortungsvollen Zusammenlebens und erhalten hier den Status einer Verletzung des Gottesbundes.
Falschzeugnisverbot LO TA’ANEH – „nicht aussage“ (falsch gegen Deinen Nächsten)
Du sollst nicht falsch Zeugnis reden wider deinen Nächsten.
Das Gebot stammt aus dem Prozessrecht. Der „Lügenzeuge“ ist ein terminus technicus der damaligen Gerichtssprache. Verhindert wird, dass durch falsche Anschuldigungen vor Gericht das Gemeinschaftsleben zerstört wird. Im Gegenzug wird die Kraft der Wahrheit betont, gestörtes soziales Zusammenleben im öffentlichen Bereich wieder zurechtzubringen.
Begehrensverbot LO TACHMOD – „nicht begehre“
Du sollst nicht begehren deines Nächsten Haus. Du sollst nicht begehren deines Nächsten Weib, Knecht, Magd, Vieh noch alles, was dein Nächster hat.
Das „Haus“ mit Frau, Feld, Sklavinnen und Slaven wie Tieren stellt die Lebensgrundlage eines freien Bürgers dar. Während die vorhergehenden Gebote einfach einen Rechtsraum für ein gelingendes Gemeinschaftsleben absteckten, in dem die Motivation zum Handeln keine Rolle spielte, stößt das Begehrensverbot in den Bereich menschlichen Handelns vor, der nicht mehr direkt justiziabel ist und der nur durch den Apell an eine innere Stimme erreicht werden kann: Das Begehrensverbot richtet sich gegen ein Streben, die Güter des Nächsten auch mit legalen Mitteln dem eigenen Besitz einzuverleiben. Erst durch das Begehrens verbot wird aus dem Dekalog nicht nur ein Rechtstext, sondern ein Text an der Schnittstelle zum Ethos, der eine innere Haltung des Menschen einfordert.