Viele klopfen die Heilungserzählungen nach historischer Stichhaltigkeit ab: Ist das alles auch so passiert? Diese Historizität der Heilungen Jesu kann jedoch nicht empirisch-rational erwiesen werden. Die neuere theologische Forschung legt vielmehr die Wahrheit der Erinnerung frei und eröffnet ein neues Verständnis.
Keines der Heilungswunder Jesu lässt sich archäologisch nachweisen. Das aufgedeckte Lehmdach, durch das nach dem Markusevangelium der Gelähmte herabgelassen wurde, ist ebenso wenig erhalten wie das Bett, in dem die Schwiegermutter des Petrus fiebernd lag. Vom weggeworfenen Mantel des blinden Bartimäus gibt es nicht einmal Reliquien und auch vom Grab, in dem Lazarus bestattet worden war, fehlt jede Spur. Und selbst wenn man annehmen wollte, dass Grundmauern der Synagoge von Kafarnaum schon aus der Zeit des ersten Jahrhunderts stammen, also die Existenz eines möglicherweise von einem Hauptmann – zumindest nach der Fassung des Lukas – gestifteten Gotteshauses plausibel ist, besagt das wenig darüber, ob der Sklave des Hauptmanns nun geheilt wurde oder nicht. Nirgends mehr als in der Grabeskirche von Jerusalem kann man nachempfinden, dass das Eigentliche des Wunders nicht mit Steinen, Marmorplatten oder Tonscherben zu fassen ist. Das Grab des Lazarus würde rein gar nichts beweisen oder widerlegen. Auch wenn dieser Befund zunächst wenig überraschend ist, schärft das kleine Gedankenexperiment doch das Bewusstsein für eine Rückfrage nach den Wundern Jesu. Was kann überhaupt gefunden werden? Und wonach suchen wir eigentlich?
Wer heute nach den Wundern Jesu fragt, will in der Regel wissen, was wirklich passiert ist. Er oder sie sucht nach Wahrheit, die für den neuzeitlich geschichtsbewussten Menschen hinsichtlich der Vergangenheit zunächst im Sinne einer Korrespondenzwahrheit verstanden wird: Entspricht den Quellen auch ein Ereignis der Vergangenheit? Was kann nachgewiesen, was kann vielleicht sogar bewiesen oder widerlegt werden? Die Wahrheit von Wundern lässt sich nicht messen, sie ist nicht objektiv im Sinne des empirischen Rationalismus nachweisbar, schon deshalb, weil sich Wunder nicht im Experiment wiederholen lassen. Und das gilt nicht nur aufgrund der Zeitdifferenz bei den Wundern Jesu. Auch gegenwärtig zeigt die Diskussion um die Heilung der Costa Ricanerin Floribeth Mora (von den Ärzten wegen eines Gehirn-Aneurysmas aufgegeben, betete sie nach eigenen Angaben zu Johannes Paul II. und genas; im Zusammenhang mit der Heiligsprechung von Papst Johannes Paul II. wurde dieses Wunder anerkannt), dass die Wahrheit von Wundern auch mit modernsten Messmethoden nicht quantifiziert oder gar objektiv erwiesen werden kann. Wahrheit hat etwas mit Wahrnehmung zu tun. Dies gilt besonders auch für die Wahrheit der Wunder.
Denn selbst wenn Wunder Tatsachen der Geschichte sind, können sie nicht ausgegraben werden. Sie müssen stattdessen erfahren, erzählt und erinnert werden. Die erzählte Erinnerung in Gestalt der biblischen Heilungsgeschichten ist deshalb nicht beklagenswert, sondern die medial adäquate Weise, wie Heilungswunder im kollektiven Gedächtnis bewahrt werden und wie man sich ihnen je und je neu annähern kann. Wer sich mit Jesu Wundern befasst, ist deshalb gut beraten, nicht hinter und jenseits der Texte zu fragen, sondern immer nur zu ihnen, mit ihnen und aus ihnen heraus. Statt um die Archäologie der Steine kann es nur um eine „Archäologie des Wissens“ (Foucault), um eine Archäologie der Texte gehen, um die in Erzählungen erinnerte Wahrheit.
Sind Heilungswunder „plausibler“ als Naturwunder?
Die Heilungen Jesu, die in der Forschung auch „Therapien“ genannt werden, waren für die historisch-kritische Jesusforschung immer ein Zufluchtsort, der es trotz rationaler Kritik ermöglichte, ein geschichtliches Ereignis hinter den Texten anzuerkennen. Während der Gang Jesu über das Wasser oder die Auferweckung eines schon vier Tage toten Menschen doch weit über das Realitätsbewusstsein neuzeitlich geprägter Menschen hinausgeht, konnte man sich Heilungen weiterhin vorstellen. Besonders die Lösung von Blockaden (wie bei der verkrümmten Frau oder der verdorrten Hand) oder die Genesung vom Fieber durch Handauflegung (Mk 1,29-31) schien nicht völlig aus dem gegenwärtigen Vorstellungshorizont herauszufallen. So war mit den Heilungswundern eine letzte Fluchtburg für die Historizität der Wunder Jesu gegeben, selbst für den aufgeklärten modernen Menschen. So glaubte man: Naturwunder dürfen der Kritik preisgegeben werden, aber Heilungswunder können auch dem Plausibilitätskriterium der kritischen Jesusforschung standhalten.
Allerdings ist dieser Versuch der stillschweigenden Harmonisierung der Texte mit dem aufgeklärten Common Sense der Welterklärung eine Selbsttäuschung, die eine Spielart der rationalistischen Wunderinterpretation darstellt. Bei Licht betrachtet stellen die Heilungserzählungen das Wirklichkeitsverständnis des Lesers ebenso auf die Probe wie alle anderen Wundererzählungen. Die Heilung eines Menschen von Aussatz, eines seit 38 Jahren Gelähmten oder eine Fernheilung an abwesenden Personen war weit mehr als die damalige Heilkunst je leisten konnte, selbst heute durchbricht das medizinische Normen. Die Heilungen Jesu wurden fast durchweg an schweren, unheilbaren und tödlich verlaufenden Krankheiten vollzogen.
Und selbst wenn man bestimmte Krankheitsbilder mit heute bekannten Krankheiten identifizieren zu können glaubt (Epilepsie oder Wassersucht), so vollzieht sich lediglich eine Plausibilisierung des Krankheitsbilds, nicht aber der Heilung davon. Gerade die plötzliche Heilung eines an Epilepsie erkrankten Kindes ist keineswegs plausibler als die Durchbrechung anderer Erfahrungsnormen wie die plötzliche Stillung eines Sturmes. Kein Wunder, dass bereits auf der Ebene der erzählten Welt das Staunen und die Verwunderung der anwesenden Figuren eigens herausgearbeitet werden. Die angeblich grundsätzlich wundergläubigen Menschen der Antike sind verwundert, sie staunen, ja sie sind entsetzt über das Geschehen. Auch der moderne Ausleger ist deshalb gut beraten, diese Erzähldetails wahr- und ernst zu nehmen.
Wie werden Heilungen erzählt?
Heilungserzählungen stellen die normale Erfahrung von Wirklichkeit auf die Probe. Und das gilt nicht nur für den modernen Leser. Abgesehen davon, dass bereits in der antiken Historiographie ein lebendiger Diskurs über die Möglichkeit und Unmöglichkeit bestimmter Wundertaten geführt wurde, zeigt sich bei genauer Lektüre der Texte im Neuen Testament, dass sie offenbar darauf angelegt sind, Normsysteme zum Einstürzen zu bringen. Wundergeschichten wollen Spannung erzeugen, und zwar zwischen der realistischen Erzählweise und den normbrechenden Inhalten. Sie liegen literaturwissenschaftlich betrachtet also zwischen Historiographie und Fantasy, sie sind zugespitzt formuliert: fantastische Tatsachenberichte. Was ist damit ausgesagt?
Das historische Erzählen vollzieht sich zunächst in ganz realistischen Bahnen. Da berichtet ein Evangelist von vergangenen Ereignissen, die konkret und vorstellbar sind: Von einer kranken Schwiegermutter im Haus oder von einem blinden Bettler, der am Wegrand sitzt. Selbst die Kranken am Teich Betesda können für einen Kenner der Jerusalemer Ortsszene sofort Glaubwürdigkeit und Realitätssinn erzeugen (es konnten drei Hallen einer Art Wasser-Sanatorium ausgegraben werden). Auch die Krankheitsschilderungen sind vorstellbar, mehr noch die Ausweglosigkeit, an der betroffene Menschen verzweifeln, wenn sie etwa seit Jahren an Blutfluss leiden und alles Menschenmögliche des damaligen Heilsystems ausgeschöpft hatten. Durch Erzählerkommentare wird eigens hervorgehoben, an welcher Grenze diese Menschen stehen. Die Heilungserzählungen sind auch in historische Makro-Erzählungen eingebettet, die im Falle von Lukas sogar ganz ausdrücklich die Gestalt von Geschichtsschreibung annehmen, wie sie auch sonst in der antiken Historiografie üblich war. Doch auf dem Boden dieses „normalen“ Wirklichkeitssystems, auf dem Boden einer plausiblen Vergangenheitserzählung, geschieht dann auf einmal das Unfassbare: Jesus kann helfen, heilen und retten. Das Hereinbrechen des Unglaublichen wird bereits durch Zeitangaben wie „plötzlich“ (euthys) markiert, aber deutlicher noch durch die Reaktion von Figuren auf der Ebene der erzählten Welt ausgesprochen: „Heute haben wir paradoxa gesehen!“ (Lk 5,26), die Volksmengen sagen: „Noch niemals gab es so etwas in Israel!“ (Mt 9,33). Die Spannung, die zwischen der Erzählweise und dem Erzählinhalt erzeugt wird, sollte nicht vorschnell durch Textvergleiche mit antiken Paralleltexten oder durch rationalistische Kritik entkräftet werden. Sie zählt vielmehr zum Wesenskern der Wundererzählungen. Solche Geschichten wollen einen Leser herausfordern, sie provozieren: Vernunft und eigene Erfahrung melden Widerspruch an, aber vor der Aufkündigung des Glaubwürdigkeitspakts warnt die historische Erzählweise und der Kontext der Jesusgeschichte. Auf diese Weise beginnt ein fruchtbarer Prozess des Verstehens.
Was können wir lesen? Ein orientierender Überblick
Blicken wir genauer auf die Texte selbst. Welche Heilungen gibt es nach dem neutestamentlichen Zeugnis? Die Anzahl der Heilungserzählungen ist durchaus überschaubar. Das Markusevangelium berichtet von neun Heilungen Jesu, die abgesehen von der Heilung des Taubstummen in Mk 7,31-37 und der Blindenheilung in Mk 8,22-26 alle von Matthäus und Lukas übernommen werden. Man könnte mit gewissem Recht auch die Dämonenaustreibungen des „Besessenen aus Gerasa“ (Mk 5,1-20) und des „besessenen Jungen“ (Mk 9,14-29) zu den Heilungen rechnen, denn abgesehen von der engen Überlappung von Dämonenaustreibung und Heilung wurde in der späteren Forschung die Störung des Geraseners als psychische Erkrankung, die des Jungen als Epilepsie „diagnostiziert“. Matthäus erzählt – abweichend von den Synoptikern – noch von einer Heilung zweier Blinder und eines Stummen (Mt 9,27-34). Matthäus und Lukas berichten gemeinsam von einer Fernheilung (Kind/Sklave des Hauptmanns von Kafarnaum), die gewöhnlich auf die beiden vorliegende Logienquelle Q zurückgeführt wird. Lukas kennt die meisten Heilungen. Neben den Markuswundern erzählt er noch vier weitere Heilungen, die sonst in keinem Evangelium vorkommen. Im Johannesevangelium, das insgesamt eine gewaltige Reduktion der Wundererzählungen auf nur acht aufweist (bei Lukas insgesamt 20 Wundererzählungen), finden sich drei Heilungen. Jede ist für sich eigenständig, aber es zeigen sich doch gewisse Parallelen zu den synoptischen Erzählungen, sei es bei der Fernheilung des Sohns eines königlichen Beamten im Vergleich zur Heilung des Sklaven/Kindes des Hauptmanns, sei es bei der Heilung des Gelähmten, der wie in Mk 2,1-12 sein Bett nehmen und hinausgehen soll. Großzügig gerechnet kommen wir also auf 20 Erzählungen, die von Heilungen Jesu berichten.
Wen und wie heilt Jesus?
Es lohnt sich, die Gruppe der geheilten Menschen näher in den Blick zu nehmen. Zu allermeist vollzieht sich die Heilung an Einzelnen, im Falle des Bartimäus sogar an einer namentlich bekannten Person. Bei Matthäus weitet sich dieses Setting zu Paarheilungen (zwei Blinde vor Jericho, zwei Besessene in Gadara, einmal sogar drei Personen, siehe Mt 9,27-34), bei Lukas wird einmal von einer Kollektivheilung an zehn Aussätzigen gesprochen (Lk 17,11-19). Einen Sonderfall stellen die sogenannten „Summarien“ dar, in denen man aufgrund der Nennung von Kranken „der ganzen Stadt“ oder „vieler Kranken“ (etwa Mk 1,32-34; 3,7-12) regelrecht an Massenheilungen denken mag. Diese Texte werden mehrheitlich als Zusammenfassungen der Evangelisten eingeschätzt. Doch selbst hier scheint ein Grundzug der Heilungstätigkeit Jesu durch, wie wir an Lk 4,40 sehen: „Und als die Sonne untergegangen war, brachten alle ihre Kranken mit mancherlei Leiden zu ihm. Und er legte die Hände auf einen jeden Einzelnen und machte sie gesund.“ Die Zuwendung Jesu gilt vor allem dem einzelnen Menschen. Jesus heilt nicht pauschal, im Vorübergehen oder um der Wirkung der Masse willen. Vielmehr stehen immer die konkrete Begegnung mit dem kranken Menschen und die individuelle Zuwendung in den Erzählungen im Zentrum. Jesus spricht die Kranken an (Mk 10,51: „Was willst du, dass ich für dich tun soll?“; Mk 5,9: „Wie heißt du?“), er sondert sie teilweise ab (Mk 8,22-26), sodass eine intime Begegnung möglich wird. Es ist auch meist eine Initiative der Kranken oder ihrer Helfer erkennbar, die zu Jesus kommen, von ihm etwas erwarten, ja im Falle der blutflüssigen oder kanaanäischen Frau Jesus regelrecht die Heilung „abtrotzen“. Jesus betont diesen Anteil der Geheilten am Geschehen, etwa mit: „Dein Glaube hat dich geheilt“ (Mk 5,34). Zweimal wird davon erzählt, dass Jesus die Kranken nicht direkt zu Gesicht bekommt (Mk 7: die Syrophönizierin; Lk 7,1-10: der Hauptmann von Kafarnaum). Dass Bittsteller (wie Eltern, Freunde oder Boten) die Not für andere vorbringen, gibt es häufiger, aber in den genannten Fällen folgt Jesus nicht wie bei der Tochter des Jairus oder bei Lazarus dem Ruf, zu kommen, sondern heilt aus der Ferne. Dabei wird allerdings nicht die sonstige Nähe zwischen dem Wundertäter und dem Kranken unterwandert, sondern ein anderes Motiv in den Vordergrund gerückt. Jesus wendet sich den Marginalisierten zu, denen, die keine eigene Stimme haben können und manchmal auch in der Ferne (beispielsweise im Heidenhaus oder Heidenland) sind.
Jesus heilt gerade auch Menschen, die nicht oben in der Rangordnung der Gesellschaft stehen. Gemessen an der Zahl der Wunder ist es beachtlich, dass Jesus drei Frauen heilt (Schwiegermutter des Petrus; blutflüssige Frau; verkrümmte Frau). Ferner heilt er vier Kinder (Kind/Sklave des Hauptmanns, Tochter des Jairus, Tochter der syrophönizischen Frau, fallsüchtiger Sohn eines Vaters), mit gewissem Recht könnte man noch den Sohn des Königlichen nach dem Johannesevangelium und den Jungen aus Nain hinzurechnen. Frauen, Kinder oder auch blinde Bettler, und schon gar Aussätzige sind die Außenseiter und Missachteten der damaligen Gesellschaft, wobei die Ausgrenzung teilweise direkt mit ihrer Krankheit zusammenhängt (s. u.). Auch die Art und Weise, wie Jesus heilt, verdient eigene Aufmerksamkeit. Dies gilt umso mehr, als in der früheren Forschung die Heilung durch das reine Wort hervorgehoben wurde, während alle Formen von manuellen Techniken oder gar die Verwendung von Substanzen als archaische, magische Rituale abgewertet wurden.
Wenn solche Informationen noch aus der Frühphase der mündlichen Überlieferung erhalten seien, dann handle es sich um Relikte, die von den Evangelisten kritisiert würden. Der Blick in die Texte entlarvt eine solche Meinung allerdings als ideologisches Vorurteil. Die Erzählungen sprechen immer wieder davon, dass Jesus berührt und die Hände auflegt. Nach Mk 8,22-26 macht Jesus einen Brei aus Speichel und es wird sogar ein zweistufiges Verfahren der Heilung berichtet. Die Dimension der Berührung wird zum Beispiel bei Lukas in den Summarien aufgenommen, die bekanntlich eher die Handschrift des Evangelisten tragen. Nach Lk 6,19 wird sogar die Vorstellung der Kraftübertragung genannt (Lk 6,17: „Und alles Volk suchte, ihn anzurühren; denn es ging Kraft von ihm aus“), was auch bei der Heilung der blutflüssigen Frau eine Rolle spielt, denn sie wird – ohne Jesu Wissen – durch Berührung seines Gewandes geheilt. Das vermutlich späteste der Evangelien, das Johannesevangelium, das vom Prolog ausgehend die Bedeutung des Wortes besonders hoch schätzt, scheut sich nicht, bei der Heilung des blind Geborenen wiederum eine sehr konkrete Heilprozedur zu benennen: Joh 6,6-8: „Als er das gesagt hatte, spuckte er auf die Erde, machte daraus einen Brei und strich den Brei auf die Augen des Blinden.“ Die Praxis des Heilens Jesu kommt nicht ohne Berührung, ohne Handauflegung, Spucke und Schlamm aus.
Welche Krankheiten heilt Jesus?
Gemessen an der Vielfalt von Krankheitsbeschreibungen in der antiken Medizin, ganz zu schweigen von der Fülle heutiger Krankheitsbilder, beschränken sich die Handlungen Jesu auf wenige Krankheitsphänomene – allerdings durchweg schwere, unheilbare oder auch langwierige Erkrankungen. Die umfängliche Fieber-Debatte in der antiken Medizin zeigt, dass es sich nach antikem Verständnis selbst bei Fieber um eine schwere und meist tödlich verlaufende Erkrankung handelte. Dies gilt besonders bei „schwerem Fieber“, puretos megas (Lk 4,38), das dann vorlag, wenn das Fieber länger als drei Tage dauerte. Problematisch ist die einfache Identifikation der in den Texten genannten Krankheiten mit heute bekannten Krankheiten. Dies gilt selbst dann, wenn der griechische Begriff eine Analogie unmittelbar nahelegt. So steht bei Aussatz etwa lepra, was auf die Hansen’sche Krankheit „Lepra“ hindeutet. Historisch spricht für diese Krankheit, dass die aus Indien stammende Erkrankung durch die Feldzüge Alexanders des Großen nach Palästina eingeschleppt wurde und ab dem 4. Jh. vC regional nachweisbar ist. Allerdings wird in keinem der neutestamentlichen Texte von den einschlägigen Symptomen gesprochen. Wie fraglich Krankheitsbestimmungen sind, wird etwa beim „Gelähmten“ (Mk 2,1-12; Joh 5,1-9) evident. Während Luther hier von einem „Gichtbrüchigen“ ausgeht, haben neuere Kommentare eher einen Querschnittsgelähmten oder sogar einen Tetraplegiker (Lähmung aller vier Gliedmaßen) angenommen. Allerdings wäre ein Überleben mit einer solchen Lähmungserscheinung in einer Welt ohne Antibiotika nur für wenige Wochen vorstellbar, was im Widerspruch zu der Angabe bei Joh 5,5 steht, nach der der Gelähmte 38 Jahre lang am Teich Betesda lag. Der Grund der Bewegungsunfähigkeit bleibt also fraglich. Die ausführlichste Beschreibung von Krankheitssymptomen lesen wir in Mk 9,18-22: Ein Mann berichtet, sein Sohn zeige Symptome wie Schäumen, Zähneknirschen, Zu-Boden-Fallen. Sie stimmen mit Beschreibungen einer „Epilepsie“ überein, wie sie bereits in der Antike gegeben werden. Der Junge wird bei Markus als „stumm und taub“ (Mk 9,17.25) beschrieben, auch das „Sich-Wälzen“ (V. 20) oder das „Trocken-Werden“ (V. 18) ist nicht in der zeitgenössischen Fachliteratur belegt.
Die Texte verraten natürlich nichts über neuronale Aktivitäten im Gehirn. Die Epilepsie-Diagnose passt also weitgehend, aber doch nicht ganz. Man wird hier eher dafür sensibilisiert, dass eine einfache Übertragung unserer Wirklichkeitswahrnehmung in die Antike nicht möglich ist. Krankheiten sind keine absoluten biologischen Phänomene, sondern immer auch kulturelle Konstrukte, die eng mit einem konkreten historischen Kontext verwoben bleiben. Entsprechend wird in Mk 9 auch ein „stummer und tauber Geist“ (Mk 9,17.25) für die Krankheit verantwortlich gemacht, sodass sie nur mit einer Dämonen- oder Geisteraustreibung, einem Exorzismus, zu heilen ist. Diese enge Verbindung zwischen Krankheit und Dämonenbesessenheit ist in der neutestamentlichen Zeit weit verbreitet und findet sich auch in der neutestamentlichen Wunderüberlieferung (Mk 7,25; Lk 13). Immer wieder werden Erkrankung und Besessenheit etwa in den Summarien (vgl. Lk 4,40f; 5,25; 6,17-19; 13,32) in einem Atemzug genannt. Daraus wird man folgern dürfen, dass die Evangelisten keine scharfe Trennlinie zwischen Exorzismen und Heilungen ziehen oder gattungsspezifisch betrachtet auch Heilungserzählungen und Austreibungserzählungen zusammengesehen werden müssen.
Warum heilt Jesus? Die Theologie der Heilungen Die Erzählweise, die Konkretion und kulturelle Bedingtheit, mit denen die Texte an die Heilungen Jesu erinnern, verraten auch viel über ihre Theologie. Die Heilungen sind keine Schauwunder, Demonstrationen absoluter göttlicher Macht, schon gar nicht bestärken sie einen Gesundheitswahn. Sie lindern Leid und Verzweiflung in der Zuwendung Jesu zu einzelnen Menschen. Sie machen damit konkret erfahrbar, wovon Jesus redet: Die Wirklichkeit Gottes, das „Königreich der Himmel“ ist nahe gekommen, soll in Raum und Zeit spürbar werden, soll buchstäblich unter die Haut gehen. Die Heilungen werden jedoch nicht zum Selbstzweck. Sie sind vielmehr Ausdruck tieferer Lebenswahrheit, sie werden – wie Johannes es formuliert – zum „Zeichen“ (semeion), mit dem auf Gottes Wirklichkeit und Wirksamkeit verwiesen werden soll. Dies ist nicht „einfach“ zu haben, indem Ereignisse der Vergangenheit berichtet und vom Leser hingenommen werden. Wer Gottes Handeln in der Welt verstehen will, der muss provoziert und aufgerüttelt werden. Die Wundererzählungen vermögen deshalb auch heute noch, ihre Leser in Irritation und Staunen zu versetzen. Nur wer sich auf diese Störungen einlässt, wer mit ihnen lernt, sich wieder zu wundern, der kommt ihrer Wahrheit näher.
[Von Prof. Dr. Ruben Zimmermann, Professor für Neues Testament an der Universität Mainz.]