Der Gott der Befreiung und die Sklaverei
05.06 2024 Sklaverei in den Texten des Alten Testaments - Teil 2
Von Dr. Rainer Kessler, Professor im Ruhestand für Altes Testament an der Philipps-Universität Marburg
Das herrschaftliche Bild der Sklaverei
Die patriarchale Ordnung hat eine klare Vorstellung davon, wie es sein sollte: „Ein Sohn achtet den Vater und ein Sklave seinen Herrn“ (Mal 1,6). Sklavinnen und Sklaven sollen gehorsam sein. Allerdings zeigt die Erfahrung, dass Sklaven freiwillig nicht hören – wie übrigens auch Söhne und Töchter nicht immer. Deshalb müssen sie – nach den Worten des Buches der Sprichwörter – allesamt hart angefasst werden, sowohl die versklavten Angehörigen des Haushalts (Spr 29,19.21; Sir 33,25-33) als auch die eigenen Kinder (Spr 29,15.17; Sir 30,1-13; Sir 42,9-14). Erhebt sich eine Sklavin über ihre Herrin, wie die ägyptische Sklavin Hagar das gegenüber ihrer Herrin Sara tut, kann sie so misshandelt werden, dass sie die Flucht in dieWüste und damit den fast sicheren Tod vorzieht (Gen 16). Oder sie wird direkt von der Herrschaft samt ihrem Kind im wahrsten Sinn des Wortes in die Wüste geschickt, wo sie dem Tod ausgeliefert wäre, würde Gott nicht eingreifen (Gen 21,9-21). Die schlimmste Erfahrung für einen Patriarchen ist es, wenn Sklavin und Sklave nicht mehr auf ihn hören (Hiob 19,15-16). Als Zeichen allgemeinen gesellschaftlichen Niedergangs gilt es, wenn „die Haussklaven zu Feinden des Mannes“ werden (Mi 7,6) und die Würdenträger zu Fuß gehen müssen, während Sklaven „hoch zu Ross“ sitzen (Koh 10,7).
Innerhalb der patriarchalen Ordnung mit ihren klaren Hierarchien können es Sklaven aber auch zu etwas bringen. Im Fall der Kinderlosigkeit der Herrschaft kann ihnen das Erbe zufallen (Gen 15,2-3). Einem „verständigen Sklaven“ traut man sogar zu, einen „schändlichen Sohn“ auszustechen und „mit den Brüdern“ das Erbe zu teilen (Spr 17,2). Der Obersklave eines patriarchalen Haushalts kann die Geschäfte des Herrn bis hin zu familiären Angelegenheiten führen (Gen 24). Die Josefsgeschichte der Genesis erzählt, wie Josef, der gehorsame hebräische Sklave eines ägyptischen Hofbeamten, zunächst als Verwalter von dessen Haus eingesetzt wird. Nach seinem unverschuldeten Fall wird er im Gefängnis wiederum zum Aufseher über alle Gefangenen, bis er schließlich sogar zum Wesir des Pharao aufsteigt (Gen 39–41).
Kritische Worte der Propheten
Neben den Texten, die aus herrschaftlicher Perspektive auf die Sklaverei blicken, finden sich vor allem in der prophetischen Literatur auch kritische Stimmen. Sie richten sich primär auf den prekären Punkt des Übergangs von der Freiheit in die Sklaverei. Verwitwet eine Frau, deren Mann Schulden hatte, besteht die Gefahr, dass der Gläubiger ihre Kinder in Schuldsklaverei nimmt. Eine Legende erzählt, wie der Prophet Elischa nur durch ein Wunder verhindern kann, dass die Kinder einer Witwe so in die Sklaverei geraten (2 Kön 4,1-7). Der Prophet Amos klagt die Herrschenden der benachbarten Stadtstaaten von Gaza und Tyros an, dass sie ganze Bevölkerungen verschleppt und an die Edomiter ausgeliefert hätten – doch wohl in die Sklaverei (Am 1,6.9). Innerhalb Israels geißelt er, dass Menschen wegen geringer Schulden verkauft werden und Gläubiger es nicht abwarten können, die Verfügungsgewalt über Verschuldete zu erlangen.
Jesaja beklagt die Machenschaften der Mächtigen, die Witwen und Waisen in ihre Gewalt bringen (Jes 10,1-2). Jeremia sieht überall Menschenfänger am Werk; damit meint er keine Kidnapper oder Entführer, sondern Gläubiger, die verschuldete Menschen in ihre Gewalt bringen wollen (Jer 5,26-28). Auch außerhalb der Prophetie begegnen Bilder aus der Jagd und Fallenstellerei, die die allgegenwärtige Gier darstellen, Menschen in die eigene Gewalt bringen zu wollen (Ps 35,7; Ps 109,11; Spr 6,1-5).
Man muss allerdings festhalten, dass es bei der zum Teil scharfen Kritik der prophetischen Texte um Missbrauch, brutale Methoden und Exzesse, jedoch nicht um die Institution der Sklaverei als solche geht. Sie wird auch in diesen Texten nicht grundsätzlich infrage gestellt, wohl weil dies unter den damaligen gesellschaftlichen Bedingungen (noch) nicht vorstellbar war. Auch eine Differenzierung zwischen israelitischen und nichtisraelitischen Sklaven – wie in einigen nachexilischen Texten – ist an keiner Stelle erkennbar.
Auslöser der prophetischen Kritik ist die gesellschaftliche Krise in Israel und Juda, die ab dem 8. Jh. v. Chr. immer mehr bis dahin freie Bauern in Überschuldung und schließlich in Schuldsklaverei getrieben hat. Während die prophetischen Stimmen mit Empörung und Anklage auf diese Entwicklung reagieren, versuchen gelehrte Verfasser von Rechtssammlungen, regulierend in die Verhältnisse einzugreifen. Auch diese Rechtstexte sind geprägt von der Spannung, dass auf der einen Seite die Institution der Sklaverei als selbstverständliche Gegebenheit gilt, auf der andern Seite das Volk Israel sich selbst als ein Volk versteht, das von seinem Gott aus der Sklaverei befreit wurde und deshalb den prekären Umständen dieser Einrichtung gegenüber sensibel sein sollte.
der 3. und letzte Teil folgt in Kürze