Der Gott der Befreiung und die Sklaverei
12.06 2024 Sklaverei in den Texten des Alten Testaments - Teil 3
Von Dr. Rainer Kessler, Professor im Ruhestand für Altes Testament an der Philipps-Universität Marburg
Regeln zum Umgang mit Sklaven – das Bundesbuch
Bereits die älteste Sammlung von Rechtstexten, das sogenannte Bundesbuch (Ex 20,22-23,33), wahrscheinlich am Ende des 8. oder zu Anfang des 7. Jh. v. Chr. entstanden, enthält eine Anzahl von Bestimmungen, die Sklavinnen und Sklaven betreffen. Dabei vertritt es in seinem Mittelteil weitgehend die Interessen der Herren. Schwere körperliche Züchtigungen gelten als selbstverständlich; nur bei bleibenden Schäden erfolgt Freilassung (Ex 21,26-27). Tötet ein bekanntermaßen stößiges Rind einen Sklaven oder eine Sklavin, erhält dessen Besitzer Ersatz; der Halter des Rindes aber bleibt, anders als wenn das Opfer ein Freier ist, straffrei (Ex 21,29-31). Stirbt ein Sklave unter der Misshandlung seines Herrn nicht sofort, sondern erst nach ein oder zwei Tagen, bleibt der Herr straffrei. Die Begründung sagt alles über die dahinterstehende Sicht: „denn es geht um sein eigenes Geld“ (Ex 21,20-21). Derartige Bestimmungen bewegen sich im Rahmen dessen, was auch andere altorientalische Rechtssammlungen zur Sklaverei zu sagen haben. Allerdings sind diese Regelungen gerahmt von Bestimmungen, denen es um den Schutz von Sklaven geht. Nach Ex 21,2-6 sind Schuldsklaven nach sechs Dienstjahren freizulassen. Zwar spricht der Text ausdrücklich nur von männlichen Sklaven, trotzdem ist es wahrscheinlich, dass die Regel auch für Sklavinnen galt. Angeschlossen ist der Sonderfall, dass ein Mädchen als Sklavin in die Ehe verkauft wird (Ex 21,7-11). Sie wird besonders geschützt und in vielerlei Hinsicht einer freien Ehefrau gleichgestellt. Am Ende des Abschnitts des Bundesbuches, in dem die Sklavengesetze vorkommen, wird festgelegt, dass der „Sohn deiner Sklavin“ in die Arbeitsruhe am siebten Tag einbezogen werden soll (Ex 23,12).
Korrekturen – das Deuteronomium [5.Buch Mose]
Die Gesetze im Buch Deuteronomium (Dtn 12–26) sind wohl als bewusste Revision des Bundesbuches vom Ende des 7. Jhs. v. Chr. aufzufassen. Obwohl auch im Deuteronomium die Existenz von Sklaven und Sklavinnen als Selbstverständlichkeit gilt (Dtn 12,12.18; 16,11), setzt dieses Buch in doppelter Weise Korrekturen. Die erste liegt auf der Ebene der Begründung. Der hebräische Sklave und die hebräische Sklavin gelten als „Bruder“, so wie auch der König ein Bruder unter Brüdern sein soll (Dtn 17,20). Die Erinnerung an die eigene Sklaverei in Ägypten wird ausdrücklich in die Schutzgesetze zugunsten der Sklaven hineingenommen.
Aus ihr ergibt sich, dass Israel trotz aller faktischen Differenzen von der Sklavin bis zum König als ein geschwisterliches Volk angesehen werden soll. Die zweite Korrektur liegt in den materialen Gesetzesbestimmungen selbst. Dtn 15,12 hält ausdrücklich fest, dass die Freilassung nach sechs Jahren auch für Frauen gilt, was in Ex 21,2-6, nicht eindeutig zum Ausdruck gebracht wird. Außerdem ist den Freigelassenen ein Startguthaben mitzugeben, damit sie nicht sofort wieder Schulden machen müssen (Dtn 15,13-15). Alle Gesetze, die die körperliche Misshandlung von Sklaven voraussetzen, fehlen. Am weitesten geht die Bestimmung, dass ein entlaufener Sklave nicht ausgeliefert werden darf, sondern ein Niederlassungsrecht am Ort seiner Wahl hat (Dtn 23,16-17). Sie ist in der antiken Sklavengesetzgebung völlig einzigartig, denn dort wird unter Androhung schwerster Strafen die Pflicht eingeschärft, dass entlaufene Sklaven an ihre rechtmäßige Herrschaft ausgeliefert werden müssen. Bei ihrer Befolgung käme die Bestimmung von Dtn 23,16-17 faktisch einer Aufhebung der Sklaverei gleich.
Keine innerjüdische Sklaverei – das Heiligkeitsgesetz
Das Heiligkeitsgesetz (Lev 17–26) stammt wahrscheinlich aus dem 6./5. Jahrhundert v. Chr. Es geht über Bundesbuch und Deuteronomium darin hinaus, dass es im Fall der Verarmung von Israel liten festlegt, dass diese überhaupt nicht versklavt werden sollen (Lev 25,39). Die Begründung dafür ist ein Eigentumsvorbehalt Gottes: „Denn mir gehören die Kinder Israel als Sklaven, meine Sklaven sind sie, die ich aus dem Land Ägypten herausgeführt habe; ich bin JHWH, euer Gott“ (Lev 25,55). Allerdings wird nicht wirklich deutlich, worin sich der für den Fall der Verarmung vorgesehene Status eines Tagelöhners bzw. Beisassen von dem des Sklaven unterscheidet. Am ehesten ist noch die Art der Behandlung, also wohl die nun nicht mehr selbstverständliche körperliche Züchtigung, gemeint (Lev 25,43). Dafür ist jetzt die Freilassung erst im Jobeljahr, also jedem 50. Jahr, vorgesehen (Lev 25,40). Kommt also jemand bald nach einem Jobeljahr in Abhängigkeit, muss er bei der damaligen Lebenserwartung mit lebenslangem Dienst rechnen, auch wenn dieser nicht als Sklaverei im strengen Sinn gilt.
Anders als Bundesbuch und Deuteronomium trennt das Heiligkeitsgesetz scharf zwischen innerjüdischer und außerjüdischer Sklaverei. Die innerjüdische Sklaverei ist zumindest dem Namen nach abgeschafft. Dafür ist es Juden erlaubt, Sklaven von fremden Völkern zu erwerben (Lev 25,44-46). Geraten dagegen Jüdinnen und Juden in die Sklaverei bei Nicht-Juden, ist es dringend geboten, dass Sippenangehörige sie freikaufen. Nur für den Fall, dass das nicht möglich ist, gilt auch für sie wie für Menschen, die bei Juden Dienst tun müssen, die Jobeljahrregelung, also das Freikommen im 50. Jahr (Lev 25,47-54).
Entwicklungen in nachexilischer Zeit
In der Zeit der persischen und griechischen Vorherrschaft nach dem babylonischen Exil wird die Frage der Sklaverei bei Nicht-Juden immer drängender. Dies hängt damit zusammen, dass die Juden in der Diaspora in ständigem Kontakt mit Fremden stehen, dass aber auch in den persischen Provinzen Juda und Samaria neben der israelitischen eine starke nicht-israelitische Bevölkerung lebt. Deshalb behandelt das Heiligkeitsgesetz den Fall der Versklavung bei Nicht-Juden. Deutlich wird das Problem zur Zeit Nehemias um die Mitte des 5. Jh. In Juda kommt es zur Schuldsklaverei von Jüdinnen und Juden bei anderen Juden. Dies führt an den Rand eines Volksaufstands. Um ihn einzudämmen, verfügt Nehemia als persischer Statthalter einen sofortigen Schuldenerlass. Eines seiner Argumente ist, dass man doch selbst in Babylonien alles getan habe, um versklavte Volksangehörige freizukaufen, und nun nicht wieder in den Zustand innerjüdischer Sklaverei zurückfallen dürfe (Neh 5,1-13). So lässt sich in der nachexilischen Zeit ein gewisser Konsens feststellen, dass innerjüdische Sklaverei abzulehnen ist und die Sklaverei jüdischer Menschen bei Nicht-Juden durch Freikauf möglichst vermieden werden soll. Allerdings darf man sich nicht der Illusion hingeben, alles, was in der Gesetzgebung der Tora zum Schutz von Sklavinnen und Sklaven festgeschrieben ist, sei auch in die gesellschaftliche Realität eingeflossen. Darüber, wie weit Torabestimmungen und tatsächliche Verhältnisse auseinanderliegen können, geben die sogenannten Samaria-Papyri beredt Auskunft. Sie stammen aus dem 4. Jh. v. Chr. und enthalten Verträge, in denen Sklaven (und in einem Fall eine Sklavin) zwischen zwei Vertragsparteien in Dauersklaverei verkauft werden. Das aber ist nach der Tora verboten, denn nur durch freiwilligen Entschluss kann ein Schuldsklave zum Dauersklaven werden (Ex 21,5-6; Dtn 15,16-17). Der Verstoß ist umso auffälliger, als die große Mehrzahl der beteiligten Personen – Käufer, Verkäufer, verkaufter Sklave und der die Urkunde beglaubigende Beamter der Provinzverwaltung von Samaria – ausweislich ihrer Namen JHWH-Verehrer sind. So wird man zusammenfassend sagen können, dass die Hebräische Bibel sowohl aufgrund ihres Grundbekenntnisses von der Befreiung Israels aus der ägyptischen Sklaverei als auch durch eine Anzahl von Torabestimmungen das Schicksal versklavter Menschen erleichtern will und sogar eine Tendenz zur allgemeinen Aufhebung der Sklaverei hat. Bis dies aber aus der Vorstellung der Tora-Gesetzgebung in die soziale Wirklichkeit umgesetzt wird, ist freilich noch ein weiter Weg.
In der kommenden Woche beginnt ein Beitrag über die ambivalenten Umgangsweisen mit Sklaverei im Neuen Testament