Der Dekalog ist nicht die einzige Sammlung ethischer oder rechtlicher Normen im antiken Orient. Der Vergleich zeigt viele Ähnlichkeiten und manche Unterschiede. Dies wirft Grundsatzfragen auf: Auf welcher Basis gelten rechtliche Verfassungen überhaupt? Was ist ihr ethisches Fundament?
“O du, der die Flamme umarmt, der aus Cheraha hervorgeht: Ich habe nicht gestohlen ... O du, der die Glieder zittern lässt, der aus Rosentau hervorgeht: Ich habe Menschen nicht getötet … O Wamemti-Schlange, die aus der Schlachtstätte hervorgeht: Ich habe nicht Ehebruch begangen.“ Dies sind drei der 42 negativen Sündenbekenntnisse des Ägyptischen Totenbuches (TUAT* 2:512f), die der Verstorbene vor den 42 Göttern in der Halle der Vollständigen Wahrheit vorzutragen hat. Die Bekenntnisse betreffen rechtes Handeln gegenüber Göttern und Menschen und finden sich an einem existentiellen Übergang – vom diesseitigen Leben ins jenseitige. Ebenfalls aus dem 2. vorchristlichen Jahrtausend stammt die prominenteste aller Rechtssammlungen des Alten Orient, der Codex Hammurabi. König Hammurabi tritt darin als durch den Sonnengott Schamasch inspirierter Gesetzgeber auf, um „den Schwachen vom Starken nicht schädigen zu lassen“ (TUAT 1:40). Mord, Diebstahl, Ehebruch, und Falschaussage vor Gericht zählen zu wichtigen Themen der Rechtssammlung. Die Inschrift eines gewissen Dionysius aus dem lydischen Philadelphia regelte im 2./1. Jh. vC den Zugang zum heiligen Raum seines Mysterienkults. Zeus habe ihm im Traum grundlegende Gebote offenbart: Die Anwendung von Gift sowie Abtreibungs- und Verhütungsmitteln seien ebenso untersagt wie geschlechtliche Betätigung außerhalb der Ehe. Wer den Kultraum betreten wollte, sollte seine Unschuld bei allen Göttern beschwören. Dies sind drei Beispiele von Texten aus dem Alten Orient und der griechischen Antike, die sich unter gewissen Rücksichten mit den Zehn Geboten der Bibel vergleichen lassen. Ausge wählte Vergleichspunkte werden im Folgenden näher betrachtet.
Ein Prüfstein am Übergang
Die Gebote des Dekalogs ergehen während eines großen Übergangs des Volkes Israel – nach der Befreiung aus Ägypten und vor dem Eintritt ins verheißene Land. So lassen sie sich mit dem negativen Sündenbekenntnis am Übergang ins Jenseits im ägyptischen Totenbuch vergleichen oder mit der Beschwörung der Freiheit von Schuld am Übergang vom profanen zum heiligen Kultraum in der Inschrift des Dionysius. Der ursprüngliche Sitz im Leben des Dekalogs sei genau dies gewesen: eine Tempeleinlassliturgie, wie sie sich in Psalm 24 zeigt, so der norwegische Alttestamentler Sigmund Mowinckel in Le Décalogue, 1927 („Wer darf hinaufziehn zum Berg des Herrn, wer darf stehn an seiner heiligen Stätte? Der unschuldige Hände hat und ein reines Herz, der seine Seele nicht an Nichtiges hängt und keinen trügerischen Eid geschworen hat“, Ps 24,3-4). Eine frühe‚ liturgische Verwendung des Dekalogs ist nicht auszuschließen, doch fehlen uns direkte Beweise für diese Hypothese.
Ein mobiles Monument
Die Erzählung der Offenbarung am Gottesberg Sinai (Ex 20) beziehungsweise Horeb, wie der Berg im Deuteronomium heißt (Dtn 5), charakterisiert den Dekalog als in Steintafeln gemeißeltes Monument. Er ließe sich so mit der Steinstele des Hammurabi vergleichen, die als prominentes Schriftdenkmal schon im 12. Jh. vC von den Elamitern aus Babylonien nach Susa deportiert wurde. Dort wurde sie zu Beginn des 20. Jh. von französischen Archäologen entdeckt und als wissenschaftliche Trophäe abtransportiert, so dass sie seither im Louvre zu bestaunen ist. Während die Hammurabi-Stele wohl nie zum Transport gedacht war, sondern vielmehr als unvergängliches Monument öffentlich zur Schau gestellt werden sollte, sind die Dekalog tafeln in der biblischen Erzählung von Anfang an zum Transport bestimmt und der öffentlichen Betrachtung entzogen. Mose legt die Steintafeln gemäß göttlichem Auftrag in die Bundeslade, welche die levitischen Priester ins Land der Verheißung tragen sollen (Dtn 10,1-11). Sie wird schlussendlich im Allerheiligsten des Salomonischen Tempels deponiert (1.Kön 8,1-11). „Im Dunkel“, wo Gott wohnt, bleiben die Tafeln (1.Kön 8,12). Im Dunkel der Geschichte verschwinden sie auch, da die Lade spätestens bei der babylonischen Zerstörung des Jerusalemer Tempels 587 vC verloren ging und nach den Worten des Propheten Jeremia nicht wiederhergestellt werden sollte (Jer 3,16). Umso intensiver trat sie in Mythen wieder auf, wobei die äthiopische Kirche die wohl bekannteste Hüterin der Bundeslade ist. Die Gebots tafeln erscheinen wieder in unzähligen Darstellungen der Kunstgeschichte – eine symbolische Migration des Textes in unzählige Synagogen, Kirchen, Rathäuser und Gerichtssäle in aller Welt. Die Tafeln wurden zum Symbol des mosaischen und göttlichen Gesetzes schlechthin.
Von Mose geschrieben?
Während der Kodex Hammurabi gut datier bar ist, lassen sich die Ursprünge der Zehn Gebote nur hypothetisch erschließen. Die außergewöhnliche Prominenz des Dekalogs ließ auch historisch kritisch denkende Forscher noch lange Zeit an der Annahme seines hohen Alters und an Mose als Autor festhalten. Heinrich Ewald (1803–1875) – einer der Göttinger Sieben – hielt die einleitende Formulierung „ich bin JHWH, dein Gott“ für einen Ausdruck ältester mosaischer Prophetie. Der Urdekalog habe aus exakt zehn kurzen Formulierungen bestanden. Als um 1880 beim Antiquitätenhändler Moses Wilhelm Shapira in Jerusalem Manuskripte in althebräischer Schrift auftauchten, enthielten diese eine Fassung der Zehn Gebote, die den bibelwissenschaftlichen Idealvorstellungen des 19. Jh. genau entsprach: Zehn kurze Gebote werden jeweils durch die – „elohistisch“ abgewandelte – Formulierung „ich bin Gott (Elohim), dein Gott“ abgeschlossen und so im Sinne Heinrich Ewalds als authentisch mosaisch validiert. Auch wenn die These der Echtheit der Shapira-Manuskripte kürzlich in prominenten Medien vertreten wurde, scheint es weiterhin mehr als wahrscheinlich, dass es sich bei diesen, heute verschollenen, Manuskripten um eine gelehrte Fälschung des 19. Jh. handelt. Heute gilt der Dekalog als später Text, der in der Zeit rund um das Babylonische Exil, vermutlich in mehreren Etappen redaktionellen Wachstums, schrittweise in den wachsenden Pentateuch integriert wurde. Darin nimmt er nun eine prominente Doppelplatzierung zu Beginn der Gesetzgebungen ein – göttlich offenbart am Sinai und in Moab durch Mose vermittelt. Diese Inszenierung ist nicht als historisches Geschehen misszuverstehen. Sie ist vielmehr als symbolische Repräsentation des kulturellen Gedächtnisses des entstehenden Judentums allegorisch zu entziffern:
• Göttliche Autorität schützt die Rechte der Schwachen – am Schabbat dürfen auch Sklavinnen und Sklaven ruhen, so dass die soziale Gleichheit wiederhergestellt wird. Keine menschliche Macht ist legitimiert, diese Forderung zu ignorieren.
• Die Gestalt des Mose dient als Symbol idealer politischer Leitung, die sich deutlich vom – historisch gescheiterten – Königtum unterscheidet. Seine Führungsrolle orientiert sich vor allem an der prophetischen Vermittlung göttlicher Offenbarung. Die rechtsgelehrten Schreiber, die für die Komposition und frühe Überlieferung des Pentateuchs verantwortlich waren, entwarfen in Mose ihr idealtypisches Vorbild.
Die Zehn Gebote: ethischer Kompass oder rechtliche Normen?
Hinsichtlich ihres ethischen Gehalts beinhalten die Zehn Gebote kaum etwas, was nicht allgemein im Alten Orient als ethische oder rechtliche Norm anerkannt gewesen wäre. Außer gewöhnlich ist allerdings das religiöse Verbot, anderen Göttern außer allein JHWH zu dienen. Und auch das Schabbatgebot – das im Wochenrhythmus in weiten Teilen der Welt bis heute weiterlebt – ist ein Spezifikum der jüdischen Religion. Was den Dekalog jedoch wesentlich von seinen antiken Vergleichstexten unterscheidet, ist seine politische Funktion. Als direkte göttliche Offenbarung an Israel in der machtvollen Theophanie am Sinai präsentieren die Zehn Gebote die ersten für den Bundesschluss relevanten Normen (Ex 19–24). Der Alttestamentler Albrecht Alt (1883–1956) hatte die Verbote des Dekalogs als „apodiktisches“, also absolut formuliertes, Recht bezeichnet, das im Kontrast zu den im Alten Orient üblichen kasuistischen** Rechtssätzen spezifisch israelitisch sei. Andere Alttestamentler verstanden den Dekalog als Ausdruck des Ethos – im Gegensatz zu Rechtssätzen. Diese Gegenüberstellung jedoch hat hintergründig möglicherweise auch mit christlicher Bevorzugung von Ethik und Abneigung gegenüber dem „jüdischen“ Gesetz zu tun. Der Dekalog gehört vielmehr beiden Bereichen an – der Ethik und dem Recht. Er lässt sich mit den rechtsethischen Verfassungsprinzipien vergleichen, die moderne Verfassungsdokumente wie das deutsche Grundgesetz formulieren, etwa dem Schutz des Lebens. Dies zeigt sich in der Funktion des Dekalogs als Einleitungstext für die Rechtssammlungen des Bundesbuchs (Ex 21–23) und des Deuteronomium (Dtn 12–26). Der Dekalog und die jeweilige Rechtssammlung konstituieren Israel im Sinaibund (Ex 19–24) wie auch im Moabbund (Deuteronomium): Durch den Bundesschluss wird Israel zum rechtlich verfassten Gottesvolk. Schon Philo von Alexandrien (ca. 20 vC–50 nC), dem wir den ältesten erhaltenen Kommentar zum Dekalog verdanken, erkannte die rechtssystematische Bedeutung der Zehn Gebote: Er verstand sie als „Hauptinbegriffe“ oder „Prinzipien“ (kephálaia) der anderen Gesetze des Mose und ordnete die Einzelgesetze in zehn Gruppen je einem Dekaloggebot zu.
Unabhängig von jedem Staatsgebiet
Die direkte göttliche Offenbarung des Dekalogs hat weitreichende politische Bedeutung. Während im Alten Orient der König der Gesetzgeber schlechthin war, präsentiert der Pentateuch Gott selbst als Gesetzgeber. Der Dekalog kann so als „Gegenmodell zum altorientalischen Königsrecht“ gesehen werden (Eckart Otto). Die Offenbarung geschieht am Sinai, einem ‚utopischen‘ Ort jenseits der großen Zivilisationen. In der Kargheit der Wüstenberge, die menschlichem Einfluss trotzen, zeigt sich das Göttliche in den Naturgewalten. In Gestein vom Berge Sinai ist die Dekalog-Offenbarung mit göttlichem Finger eingegraben (Ex 31,18; Dtn 9,10). Mit den Tafeln aus Sinai-Gestein wird der Heilige Berg symbolisch selbst ins Land hineingetragen. Die „Extraterritorialität des Gesetzes“ (Jan Assmann) impliziert seine Gültigkeit unabhängig vom „Staatsterritorium“ des verheißenen Landes. Der Dekalog wird nach der Befreiung aus dem Sklavenhaus Ägypten gegeben und nimmt im Gebot, die Eltern zu ehren, lange währendes Leben im verheißenen Land in den Blick. Zu gleich impliziert die Formulierung „damit deine Tage lange währen in dem Land, das JHWH, dein Gott, dir gibt“ (Ex 20,12) die Möglichkeit, das Land könnte verloren gehen, falls das Gebot verletzt wird. Tatsächlich dürfte der Gedanke, Gott ahnde die Schuld der Eltern „bis zur dritten und vierten Generation“ (Ex 20,5) spezifisch auf die Dauer des babylonischen Exils angewandt worden sein. Erst die Enkel und Urenkel der 597/587 vC nach Babylonien Deportierten hatten die Chance, unter persischer Herrschaft nach Jerusalem zurückzukehren. Fernab der Heimat und des zerstörten Tempels, da keine auf das Land und den Tempelkult bezogenen Gesetze mehr eingehalten werden konnten, trugen ethische Grundforderungen, die in Gestalt der Zehn Gebote konzipiert wurden, zur Stärkung der kollektiven Identität der Exilsgemeinde bei.
Eine revolutionäre politische Idee: Recht geht über Macht
Die wechselseitige Verwobenheit religiöser, ethischer und rechtlicher Vorstellungen im biblischen Dekalog ist tief in den kulturellen Ausdrucksformen sowohl des Alten Orients wie auch der klassischen Antike verwurzelt. Dagegen weist die einmalige Besonderheit seiner politischen Funktion in die Moderne voraus. Der Gedanke des göttlichen Gesetzes ist der historische Kern des modernen Gedankens des Primats des Rechts. Das Gesetz schränkt die Macht auch der höchsten politischen Ämter ein. Nach dem Deuteronomium soll der einst einzusetzende König von Israel selbst täglich die Tora des Mose studieren, damit sich sein Herz nicht über seine Geschwister erhebe (Dtn 17,14-20). Das Volk wird so als Familie gesehen – ohne marginale Gruppen. Der moderne Rechtsstaat definiert sich von der Geltung des Rechts her, vor dem alle – auch die politischen Amtsträger – gleich sind. Die überaus prominente Rolle, die der Dekalog seit der Reformation als Spitzentext allgemein verbreiteter Katechismen eingenommen hat, ließ ihn zur Ikone des göttlichen Grundgesetzes werden, das in der modernen Rechtsgeschichte und Verfassungstheorie als kultureller Klassikertext weitergewirkt hat.
Worauf gründet das Recht?
An der Spitze des Dekalogs steht die Alleinverehrung JHWHs. Ethik und Recht gründen hier in der Treue zu einem transzendenten, personalen Gegenüber. Weltanschaulicher Pluralismus erschwert es, rechtsethische Prinzipien auf einer gemeinsamen Grundlage zu formulieren. Wenn heute die Autonomie des Einzelnen das Recht begründen soll, sich töten zu lassen – lässt sich das Leben schwer kranker Menschen noch schützen? Aufgabe des Rechts ist es, wie König Hamurabi formulierte, „den Schwachen vom Starken nicht schädigen zu lassen“. Um das sich meist durchsetzende Recht der Stärkeren einzuschränken, hat das Recht seit Jahrtausenden auf Transzendenz verwiesen. Die ägyptischen, babylonischen und griechischen Götter hatten das Recht ebenso zu schützen wie der Gott Israels, der zum Gott der monotheistischen Religionen avancierte. Eine wesentliche rechtstheoretische Folge des Monotheismus war es, dass das Recht des einen Gottes nicht durch konkurrierende Götter in Frage gestellt werden konnte. Wer den Tod des einen Gottes deklariert, läuft Gefahr, dem Recht der Stärkeren erneut zur Geltung zu verhelfen.
Die Reflexion über rechtsethische Prinzipien erstarkt dann, wenn ihr Fehlen horrende Folgen gezeitigt hat. So formulierte Thomas Mann in seiner Erzählung „Das Gesetz“ im Jahr 1943: „Aber Fluch dem Menschen, der da aufsteht und spricht: ‚Sie gelten nicht mehr.‘ Fluch ihm, der euch lehrt: ‚Auf, und seid ihrer ledig! Lügt, mordet und raubt, hurt, schändet und liefert Vater und Mutter ans Messer, denn so steht’s dem Menschen an, und sollt meinen Namen preisen, weil ich euch Freiheit verkündete.‘“ Vertieftes Nachdenken über die Geltungsgründe rechtsethischer Prinzipien ist heute so dringlich wie damals. Die steinernen Tafeln mögen unauffindbar sein, doch die Stimme vom Sinai lässt sich heute noch hören.
* TUAM: Otto Kaiser (Hrsg.): Texte aus der Umwelt des Alten Testaments. 18 Lieferungen in drei Bänden. Gütersloher Verlagshaus Gerd Mohn, Gütersloh 1982–1997.
** Kasuistische Rechtssätze konstruieren einen Rechtsfall und die darauf folgende Rechtsfolgebestimmung: „wenn … dann …“ Die altorientalischen Gesetzessammlungen folgen diesem Schema.
[Prof. Dr. Dominik Markl SJ ist Professor für Altes Testament am Päpstlichen Bibelinstitut in Rom.]