Der Dekalog steht in einer sonderbaren Spannung: Einerseits ist er an Israel gerichtet, das aus dem Sklavenhaus Ägypten befreit wurde. Andererseits ist immer ein „Du“ angesprochen, jede und jeder Einzelne. Dabei ist ein großartiger ethischer Rahmen entstanden. Ein Blick in die Details.
Der Dekalog ist anders: Als einziges Gesetzeskorpus der Tora wird er in zwei – voneinander verschiedenen – Fassungen zitiert (Ex 20 und Dtn 5); allein der Dekalog wird von Gott selbst direkt zum Volk gesprochen; vor allem jedoch wird nur er von Gott höchstpersönlich auf zwei Steintafeln verschriftet (Ex 32,15-18). In der älteren Forschung galt der Dekalog als Urgestein der Rechtstraditionen innerhalb des Pentateuchs. Heute jedoch ist weitgehend unumstritten, dass er nicht am Beginn der Rechtsentwicklung steht, sondern eine relativ späte Systematisierung älterer Rechtstraditionen darstellt. Vermutlich stammt der Dekalog aus frühexilischer Zeit (Anfang des 6. Jh. vC). Darüber hinaus besteht ein weitreichender Konsens, dass der Dekalog erst sekundär in die Erzählung von der Gotteserscheinung am Sinai – die sogenannte Sinaitheophanie – eingefügt wurde: Am Anfang stand in Ex 20 wohl nur eine Erzählung von der Gotteserscheinung („Das ganze Volk erlebte, wie es donnerte und blitzte, wie Hörner erklangen und der Berg rauchte ...“), ohne Verpflichtung auf das Gesetz. Erst in späterer Zeit kam es zur Verbindung von Theophanie und Gesetz durch Einfügung des sogenannten Bundesbuchs (Ex 20–23). Der Dekalog bildet dann so eine Art Schlussstein in der komplexen Redaktionsgeschichte der Sinaitheophanie.
Welche Dekalogfassung ist die ältere?
Welche der beiden Dekalogfassungen die ältere ist, ist bis heute in der Forschung umstritten und wohl auch kaum definitiv zu entscheiden. Traditionell gilt die kürzere Exodusfassung als die ältere. Aber auch die Priorität der in ihrem Erzählkontext deutlich fester verwurzelten Deuteronomiumfassung wird heute in der Forschung vertreten. Wie immer diese Frage beantwortet wird: Daran hängt weder die Datierung ins Exil noch die theologische Bedeutung des Dekalogs. Da Dtn 5 den umfangreicheren Text bezeugt, gilt diese Fassung traditionell als die jüngere Fassung, die einen älteren Text erweitert habe. Auffallend sind vor allem zwei Rückverweise auf eine frühere Gebotsoffenbarung („... wie es dir der Herr, dein Gott, geboten hat ...“) in Dtn 5,12 (Schabbatgebot) und 5,16 (Elterngebot). Warum stehen Rückverweise just in diesen beiden Geboten? Und beziehen sie sich auf den – dann älteren – Exodus-Dekalog oder auf parallele Vorschriften an anderen Stellen der Tora? Diese Fragen sind bisher nicht befriedigend beantwortet. Diejenigen, die dagegen den Dekalog im Buch Deuteronomium für den älteren der beiden halten, sehen in der Exodusfassung eine bewusste Kürzung und Umgestaltung, sichtbar etwa an der unterschiedlichen Begründung des Schabbatgebotes in den beiden Fassungen.
Die Zählung der Gebote
Zählt man die Gebote des Dekalogs ohne Vorbehalt, so kommt man nicht unbedingt auf zehn Gebote, und weder in Ex 20 noch in Dtn 5 wird dieser Gebotsreihe ein Name gegeben. Allerdings heißt es in Dtn 4,13: „Der Herr verkündete euch seinen Bund: Er verpflichtete euch, die Zehn Worte zu halten, und schrieb sie auf zwei Steintafeln.“ Und auch die erneuerten Tafeln, die nötig werden, nachdem Mose die erste Fassung zerbrochen hatte, werden wieder „zehn Worte“ genannt (Dtn 10,4). Das bezieht sich eindeutig auf den Gebotstext in Dtn 5. In der Sinaiperikope im Buch Exodus begegnet die Rede von den „zehn Worten“ nur ein einziges Mal bei der Bundeserneuerung: „Dann sprach der Herr zu Mose: Schreibe dir diese Wor te auf! Denn diesen Worten gemäß schließe ich hiermit einen Bund mit dir und mit Israel. Mose blieb dort beim Herrn vierzig Tage und vierzig Nächte. Er aß kein Brot und trank kein Wasser. Er schrieb auf die Tafeln die Worte des Bundes, die zehn Worte“ (Ex 34,27f). Hier ist zunächst unklar, ob Mose oder Gott die Tafeln beschriftet. Da aber Gott zuvor ankündigt, dass er selbst auf die neuen Tafeln dieselben Worte wie auf die ersten schreiben werde (Ex 34,1-4), ist der Text so zu verstehen, dass auch die zweiten Tafeln von Gott selbst mit dem Dekalog beschrieben werden (Dtn 10,1-5).
Der heute vorliegende Text sieht in den Gebotsreihen von Ex 20 und Dtn 5 also jeweils zehn Gebote. Schaut man aber nun in die jüdisch-christliche Tradition, so stellt man fest, dass die konkrete Zählung der Gebote durchaus unterschiedlich ausfällt. Die jüdische Tradition zählt die Präambel (Ex 20,2/Dtn 5,6) als eigenes und erstes Gebot. Fremdgötter-Bilderverbot werden als ein Gebot gezählt und die zwei Begehrensverbote werden zu einem Gebot zusammengezogen, um die Zehnzahl zu wahren. Die Gebote werden zu jeweils fünf auf die beiden Tafeln verteilt. Die erste Tafel bestimmt das Verhältnis von Mensch und Gott, die zweite das von Mensch zu Mensch. Dabei wird das Gebot der Elternverehrung zur ersten Tafel gezählt – denn wer die Eltern ehrt, ehrt Gott!
Die katholische Zählung verteilt die Gebote im Verhältnis drei zu sieben. Dabei wird das Bilderverbot als Teil des Fremdgötterverbots verstanden und nicht eigens gezählt. Entsprechend wird bei den Begehrensverboten zwischen dem Begehren der Frau und dem Begehren der Güter unterschieden, um die Zehnzahl zu wahren. Diese Zählung geht auf Augustinus zurück. Er verband die beiden Tafeln mit dem Doppelgebot von Gottes- und Nächstenliebe (Mk 12,29-31) und koppelte dies mit dem trinitarischen Gottesverständnis. So kommt die Aufteilung 3+7 zustande, die Martin Luther als ehemaliger Augustinermönch übernahm – und damit auch die lutherischen Kirchen. Die Kirchen der Reformierten, der Orthodoxie und die Anglikaner zählen das Bilderverbot als eigenständiges Verbot. In reformierten Kirchen hat sich das augenfällig in der Bildlosigkeit des Kirchenraumes niedergeschlagen, und in der Orthodoxie ist die Darstellung Gottvaters verboten. Um die Zehnzahl zu wahren, fassen sie das Begehrensverbot zu einem einzigen Gebot zusammen.
Grundgesetz, Verfassung oder ...?
In der Forschung wird immer wieder nach einem Ausdruck gesucht, um das Verhältnis des Dekalogs zu den anderen Rechtssammlungen der Tora zu beschreiben. Der Bonner Alttestamentler Frank-Lothar Hossfeld bezeichnet den Dekalog als „Grundgesetz“; Dominik Markl, Rom, spricht von vom „Dekalog als Verfassung des Gottesvolkes“; und der Marburger Alttestamentler Rainer Kessler nennt die Zehn Gebote „das Eingangsportal“ oder „die Ouvertüre zur Tora“. Die Suche nach einer adäquaten Metapher ist kein Glasperlenspiel. Vielmehr sollte sie die Beziehung des Dekalogs zu den übrigen Gesetzen der Tora zum Ausdruck bringen. Es bedarf einer Metapher, die a) den relativen Sonderstatus des Dekalogs zum Ausdruck bringt und die b) deutlich macht, dass der Dekalog nicht allein für sich steht, sondern der Ergänzung bedarf und von den übrigen Gesetzen nicht getrennt werden darf. Daher bezeichne ich den Dekalog als „Fundament der Tora“. Ein Bauwerk hat keinen Bestand ohne Fundament, aber zugleich stellt ein Fundament ohne weiteren Überbau eine Ruine dar. Dabei kann der Überbau eines Fundaments leicht geändert werden, das Fundament selbst gibt aber immer noch die Grundstruktur des Gebäudes vor. Aber auch ein Fundament ist nicht ewig und kann – falls es die Umstände er fordern – justiert werden.
Universales Sittengesetz? Der Dekalog verlangt mehr!
Die christliche Tradition hat den Dekalog mit dem universalen Sittengesetz identifiziert. Sie greift dabei eine Linie auf, die bereits zur Zeit Jesu beim jüdischen Philosophen Philo von Alexandrien greifbar ist. Kann der Dekalog diese Last tragen, universales Naturrecht für alle Menschen aller Zeiten zu sein? Die Antwort auf diese Frage erschließt sich aus der Präambel des Dekalogs, die im Judentum als erstes Gebot gezählt wird: „Ich bin der Herr, dein Gott, der dich aus dem Land Ägypten geführt hat, aus dem Sklavenhaus“ (Ex 20,2/Dtn 5,6). Der Dekalog richtet sich im Unterschied zu den sogenannten „Noachidischen Geboten“ nach der Sintflut (Gen 9) nur an Israel und nicht an die gesamte Menschheit. Die Bindung an die „Zehn Worte“ ist die Antwort Israels auf das befreiende Exodushandeln Gottes. Dieser handelt zuerst. Er führt in die Freiheit. Diese Freiheit ist freilich keine beliebige Freiheit. Freiheit kann vielmehr nur in Bindung gelingen. Darin besteht der Anspruch des Dekalogs: Er eröffnet den Weg hin zu einer Freiheit, die keine Willkürfreiheit ist. Dabei richtet er sich einerseits an Israel insgesamt, andererseits aber ist in den konkreten Geboten stets das einzelne „Du“ angeredet. Nicht das Kollektiv, sondern das Individuum wird in die Pflicht ge nommen.
Auch der Blick auf die Einzelgebote macht deutlich, dass der Dekalog kein universal gültiges Sittengesetz sein will. Fremdgötter- und Bilderverbot, vor allem jedoch das Schabbatgebot erschließen sich kaum durch die praktische Vernunft allein. Die immer wieder aufbrechen de Diskussion um verkaufsoffene Sonntage macht dies sehr deutlich. Umgekehrt fehlen grundsätzliche Aussagen wie die Gleichheit und Würde aller Menschen. Letzteres liegt nun freilich nicht daran, dass der Dekalog diese Grundsätze infrage stellen würde. Vielmehr werden sie vorausgesetzt. Denn die Gleichheit und Würde aller Menschen werden in der priesterlichen Schöpfungserzählung (Gen 1) im Topos der Gottebenbildlichkeit des Menschen grundgelegt. Durch den Rückverweis auf die Schöpfungserzählung im Schabbatgebot des Exodusdekalogs wird deutlich, dass die Schöpfungstheologie der Genesis die selbst verständliche Basis des Dekalogs darstellt, gleichsam den Felsen, auf dem das Fundament der Tora ruht.
Das meint nun aber nicht, dass der Anspruch des Dekalogs hinter dem Naturrecht zurückbleibt. Das Gegenteil ist der Fall. Deutlich wird dies im gern übersehenen Begehrensverbot. Es richtet sich gegen ein Streben, sich die Güter des Nächsten – auch mit legalen Mitteln – dem eigenen Besitz einzuverleiben. Damit aber wird der Bereich des justiziablen Rechts verlassen. Im Begehrensverbot vollzieht sich der Übergang vom Recht hin zu einem Ethos, das auf den Kern der Person zielt. Es geht um die innere Haltung, mit der ich dem Nächsten begegne. So schließt der Dekalog mit der Utopie einer Gesellschaft ohne Neid und Gier. Der Dekalog ist alles andere als ein kleinster gemeinsamer Nenner. Er ist mehr als ein universales Sittengesetz. Sein Anspruch geht deutlich darüber hinaus. Er definiert den Rahmen einer spezifisch jüdisch-christlichen Ethik. Er um schreibt das Plus einer solchen Ethik. Sein Anspruch ist immens – und es führt ein direkter Weg vom Anspruch des Dekalogs hin zur Maximalethik der Bergpredigt.
[Von Prof. Dr. Michael Konkel, Professor für Altes Testament an der Theologischen Fakultät Paderborn]