Brauchen wir Christen heute noch das "Alte Testament"?
16.12.2023 Und wenn ja, warum eigentlich?
Viele Christen fragen sich, ob nicht vielleicht das Neue Testament als christliche Bibel reichen könnte. Die darin enthaltenen Botschaften Jesu scheinen uns doch sehr viel freundlicher und damit näher zu sein als der nicht selten zornige und strafende Gott aus dem “Alten Testament”. Da liegt der Wunsch nahe, sich lieber auf das Wirken und die Lehre Jeus zu konzentrieren und den Rest sozusagen als überwundenes, historisches Relikt zu verstehen. Diese Sicht wird allerdings weder dem “Alten Testament” noch dem Neuen Testament gerecht. Warum?
Für Jesus bestand die Bibel aus dem, was wir heute “Altes Testament” nennen: dem Tanach (TnK, תנ״ך), der hebräischen Bibel. Jesus wurde als Jude geboren, hat als Jude gelebt und ist als Jude gestorben. Er hat sich oft zu biblischen Aussagen geäußert und stand dabei stets ganz in der Tradition jüdischer Bibelauslegung. Diese weist der Tora (תּוֹרָה), den fünf Büchern Mose, die höchste theologische Autorität zu und konzentriert sich primär auf deren Auslegung. Daraus resultiert, dass die verschiedenen Vorschriften der Tora immer wieder vor dem Hintergrund der sich wandelnden gesellschaftlichen Verhältnisse abgewogen werden müssen. Beispielsweise gibt es im Bereich der Speisevorschriften (Kaschrut, כַּשְרוּת) heute Lebensmittel, die das Volk Israel damals noch nicht kannte. Welche sind davon koscher und welche nicht?
Ach das Arbeitsverbot am Sabbat ist nicht unproblematisch, denn die Bibel sagt, dass man nicht am Sabbat arbeiten darf. Wenn man aber mit dieser Arbeit Leben rettet? Oder wenn man, wie jüngst geschehen, von einem mordenden terroristischen Mob überfallen wird? Jesus bezieht hier klar Stellung wenn er den Pharisäern entgegenhält: “Der Sabbat ist für den Menschen da, nicht der Mensch für den Sabbat” (Mk 2,27). Für Jesus war das Gebot der Nächstenliebe höher zu bewerten als das Sabbatgebot, wenn es zwischen beiden zu wählen galt. Damit hat Jesus aber nicht das Sabbatgebot in Frage gestellt, sondern es interpretiert.
So stammen auch die - nach Jesus - beiden höchsten Gebote ebenfalls aus dem Tanach, von den Theologen auch als das Doppelgebot der Liebe bezeichnet. Als ein Schriftgelehrter Jesus nach dem höchsten Gebot in der Bibel fragt, antwortet der mit dem Doppelgebot der Liebe. Mit diesem Gebot fasst er die Zehn Gebote zusammen. Demnach sind die Liebe zu Gott und die Liebe zum Nächsten gleich wichtig. “Das höchste Gebot ist das: Höre, Israel,
der Herr, unser Gott, ist der Herr allein, und du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele, von ganzem Gemüt und mit all deiner Kraft“ (5. Mose 6,4-5). Das andre ist dies: Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst (3. Mose 19,18). Es ist kein anderes Gebot größer als diese beiden”.
Auch die im Volksmund bekannten Zitate wie "Auge um Auge" einerseits und "Halte deine andere Wange hin" andererseits stammen aus dem “Alten Testament” (2. Buch Mose 21,24). Gemeint war damit, das nach altjüdischem Recht eine Straftat angemessen geahndet werden soll. Jesus hebt das Gebot nicht auf, sondern sagt: "Ihr habt gehört, dass gesagt ist: »Auge um Auge, Zahn um Zahn.« Ich aber sage euch, dass ihr nicht widerstreben sollt dem Bösen, sondern: Wenn dich jemand auf deine rechte Backe schlägt, dem biete die andere auch dar" (Mt 5,38-39) Ähnlich wie beim Sabbatgebot stellt Jesus dem Gebot der angemessenen Vergeltung das Gebot der Nächstenliebe gegenüber. So wird das Gebot, angemessen zu handeln in seinen Augen erfüllt.
Jesus hat bei seinen Auslegungen und Interpretationen und der Weiterentwicklung der biblischen Gebote aber nie den Kontext der hebräischen Bibel verlassen. “Denkt nicht, ich sei gekommen, um das Gesetz [die Tora] und die Propheten aufzuheben. Ich bin nicht gekommen, um aufzuheben, sondern um zu erfüllen”. (Mt 5,17)
Das “Alte Testament” war also für Jesus die Grundlage seiner Theologie. Er hat es nicht ersetzt und auch nicht erneuert. Allerdings hat er es universal und für die damalige Zeit revolutionär interpretiert. Und als Christen anerkennen wir seine Autorität und folgen seinen Auslegungen, soweit sie sich uns erschließen. Pointiert konnte ein Fazit lauten: Das Neue Testament ist eine universale ausgerichtete Exegese “Alten Testaments”. Deshalb ist es unabdingbar, die uns in der Bibel angebotenen Offenbarungen Gottes in beiden Teilen zu interpretieren.
Auch das häufig oberflächliche Gottesbild vom zornigen und strafenden Wüterich im “Alten Testament” ist bei aufmerksamen Studium der Bibel so nicht haltbar. Denn an vielen Stellen wir auch die unendliche Liebe Gottes zu den Menschen deutlich. Trotz aller Enttäuschungen, die ihm das “Salz der Erde” und “das Licht der Welt” immer wieder bereiten haben und immer noch bereiten, hält er an seiner Liebe zu uns Menschen fest. Genau darum geht es eigentlich. Die Menschen bringen die Propheten um, Gott versucht es wieder und wieder, sein eigener Sohn wird ihr Opfer. Das ist der Kern der Heilsgeschichte, die man nur im gesamtbiblischen Zusammenhang verstehen kann.