Auf den Spuren Jesu durch den Libanon
20.11.2024 "… er zog sich in das Gebiet von Tyrus und Sidon zurück"
Jesus ist laut Evangelien öfters in den Libanon gezogen. Was berichtet das Neue Testament über seinen Aufenthalt in diesem Land – und die ersten Schritte hier? Welche Spuren hinterließen die Pilger? Ein Blick auf die Wege Jesu und der Apostel, wie sie die libanesische Tradition bewahrt hat.
Galiläa war der Schauplatz der Verkündigung Jesu – und damit vieler Heilungen, Wunder und Gleichnisse. Das Gebiet, das sich nördlich daran anschließt und das heute den Südlibanon bildet, wird in der Bibel als „die Gegend von Tyrus und Sidon“ bezeichnet. Das weist auf die beiden berühmten Häfen an der phönizischen Küste hin, aber auch auf das erweiterte Gebiet der Städte, das sich weit ins Landesinnere erstreckte. Angezogen von seinem Ruf und seinen Wundern, kamen die Bewohner dieser Regionen „in Scharen“ an den See von Gennesaret, um Jesus zuzuhören (Mk 3,8; Lk 6,17). Im Gegenzug drückte Jesus seine Sympathie für sie aus, während er die Hartherzigkeit seiner eigenen galiläischen Landsleute verfluchte: „Weh dir, Chorazin! Weh dir, Betsaida! Denn wenn in Tyrus und Sidon die Machttaten geschehen wären, die bei euch geschehen sind – längst schon wären sie in Sack und Asche umgekehrt. Das sage ich euch: Tyrus und Sidon wird es am Tag des Gerichts erträglicher ergehen als euch“ (Mt 11,21f; Lk 10,13-14). Eine lokale Tradition, die hinter den beiden galiläischen Ortstraditionen Chirbet Kana und Kfar Kenna zurücksteht, sieht übrigens das moderne libanesische Dorf Qana (Qana al-Jalil, arabisch: „Kana in Galiläa“) als Ort des Weinwunders der Hochzeit zu Kana an (Joh 2,1 12). Dieses libanesische Qana liegt 13 km südöstlich von Tyrus. Neben seinem Namen würde auch die Lage zu den topografischen Hinweisen passen, die Eusebius von Cäsarea im 4. Jh. in seinem Onomastikon [ὀνομαστικόν], einem Verzeichnis der heiligen Stätten, aufzeichnete, das er seinem Freund, dem Bischof Paulin von Tyrus, widmete und das vom heiligen Hieronymus ins Lateinische übersetzt wurde. Ab dem 6. Jh. wird allerdings Kfar Kenna zwischen Nazaret und Tiberias zur bis heute stärksten Ortstradition – das Dorf lag auch für die Pilger auf ihrem Weg durch Galiläa am günstigsten. Die Tradition wurde von der franziskanischen Kustodie übernommen. Der arabische Ort Chirbet Qana nördlich von Sepphoris konnte ebenfalls einige Stimmen auf sich vereinen. Doch die Libanesen, Christen wie Muslime, halten auch heute noch an ihrem Qana al-Jalil fest.
Maria, Justa, Berenike …
Da Maria Jesus zur berühmten Hochzeit nach Kana begleitet hatte, folgerte man mit Epiphanius von Salamis im 4. Jh., dass sie ihm auch auf seiner – im Evangelium ausdrücklich erwähnten – Reise ins maritime Phönizien gefolgt sein musste: „Jesus ging weg von dort und zog sich in das Gebiet von Tyrus und Sidon zurück“ (Mt 15,21; Mk 7,24). In einem südlichen Vorort von Tyrus, in der Siedlung Ras el-Ain („Kopf der Quelle“), befinden sich vier Wasserreservoirs, die für die Versorgung der antiken Stadt angelegt wurden. Eines von ihnen, ein Teich namens Birket es-Saydet („Teich [Unserer] Frau“), soll durch seinen Namen an eine kühle Rast erinnern, die Maria an seinem Uferrand einlegte, während ihr Sohn in Tyrus predigte. Auch oberhalb von Sidon gibt es einen Gedenkort: Hier soll Maria in der Maghduscha Höhle auf ihn gewartet haben. Über der Höhle haben Kaiser Konstantin und seine Mutter Helena das Heiligtum Saydet el-Mantara („Unsere Liebe Frau der Erwartung“) errichtet, das noch immer ein beliebter Ort für Marienwallfahrten ist. Auf dieser Route Jesu durch den Südlibanon kam es zu einer wundersamen Heilung: der Tochter einer Frau, die laut Matthäus „kanaanäisch“ war (Mt 15,21-28) und laut Markus „syrophönizisch“ (Mk 7,24-30, s. auch weiter unten). Die Homilien der sogenannten Pseudo Klementinen, Schriften aus dem 3. Jh., die Clemens von Rom aus dem 2. Jh. zugeschrieben werden, geben dieser Mutter und ihrer Tochter die Namen Justa und Berenike, die freilich eher griechisch-lateinisch als semitisch oder „phönizisch“ sind. Aber zweifellos betonen die Pseudo-Klementinen den heidnischen – hellenischen – Ursprung der beiden Frauen für ihre Adressaten, die dennoch die Liebe Gottes er fahren hatten. Melania die Ältere, eine Ordensfrau, die 410 in Jerusalem starb, berichtet, dass sie das Haus der Syrophönizierin in Sidon besuchte. Es muss eine damals bei Pilgern beliebte Station gewesen sein, die vielleicht in einem typologischen Zusammenhang mit dem zur gleichen Zeit gut belegten Haus der Witwe von Sarepta zwischen Sidon und Tyrus steht – der Prophet Elia hatte der Erzählung nach ihren Sohn auferweckt (1.Kön 17,17-24). In der alten Stadt Sidon befindet sich noch immer ein „Platz der kanaanäischen Frau“ (Sâ'et el Kan'âniyet), der sich auf Markus 7,26 bezieht.
Die Spuren der Pilger
Die Epoche der Kreuzfahrer hielt die Erinnerung an die in den Evangelien erzählte Predigt Jesu in Tyrus wach. Zwei Pfeilschüsse von der mittelalterlichen Stadt entfernt wurde – laut den Chronisten der Kreuzzüge – ein großer Marmorblock verehrt, auf dem er gesessen und gelehrt haben sollte. Unter dem Namen des Heiligen Erlösers wurde eine Kapelle um diesen Sitz Christi herum errichtet. Bei der Freilegung des römisch-byzantinischen Hippodroms von Tyrus in den 1960er-Jahren wurden ihre bemerkenswert gut erhaltenen Überreste im Dünensand, der das ganze Ausgrabungsgebiet bedeckte, freigelegt. Es erwies sich, dass die Franken ihre Kapelle auf dem Gelände des antiken Stadions errichtet hatten, das bereits von Sand bedeckt war, und zwar direkt auf der mit Mosaiken ausgelegten Spina, der Mittellinie des Hippodroms. Der Doge Domenico Michiel soll den Marmorstein 1126 nach Venedig gebracht haben, wo er seitdem in das Baptisterium von San Marco eingemauert ist. An den Innenwänden der Kapelle sind zahlreiche Graffiti und Inschriften zu erkennen, die heute nur noch fragmentarisch vorhanden sind und in den Gipsverputz eingeschnitten wurden, der die einst bemalten Oberflächen bedeckte. Die mittelalterlichen Pilger wollten ihren Aufenthalt an diesem geheiligten Ort als Zeichen der Gnade, die ihnen der Besuch ein brachte, manifestieren. Die lateinische Formel HIC FUIT („… war hier“) steht vor der Nennung ihres Namens, manchmal zusammen mit der Nennung ihres Status und Jerusalems, dem höchsten Ziel der Reise. Es gibt noch eine beträchtliche Anzahl an eingravierten Kreuzen, einige Taler und Zeichnungen von Schiffen und Pferden. Das Kreuz ist leicht zu zeichnen und ein sehr bedeutsames Motiv für die Pilger des Heiligen Landes. Eines der hier abgebildeten Kreuze steht auf einem dreieckigen Sockel, der drei kleine, aneinandergereihte Kreise um schließt. Dies könnte ein Symbol für Golgata und die drei Nägel der Kreuzigung oder die drei Kreuze des Kalvarienbergs sein.
Solche Pilgerkreuz-Gravuren, allerdings weniger rustikal, da sie von professionellen Steinmetzen ausgeführt wurden, sind in der Grabeskirche in Jerusalem am Fuße von Golgota beim Treppenabgang zur Helenakapelle zu finden. Die Absicht ist leicht zu verstehen: die Durchreise oder den Wunsch eines frommen Reisenden zu markieren, der vielleicht gerade aus dem Westen im Hafen von Tyrus gelandet ist. Eine lokal verwurzelte Tradition besagt, dass Jesus, als er „das Gebiet von Tyrus wieder verließ und über Sidon an den See von Galiläa kam“ (Mk 7,31), damals durch die Stadt Jezzine und viel leicht auch durch das Gebirgstal von Marj Bisri gegangen sei. Heute lebt diese Tradition neu auf – als Argument der Verteidiger dieses noch wilden, aber von einem Staudammprojekt bedrohten Tals. Mit einigem Eifer haben manche moderne Autoren versucht, den Berg der Verklärung (Mt 17,1; Mk 9,2; Lk 9,28) nicht mit dem galiläischen Tabor, sondern mit dem Berg Hermon oder dem höchsten Gipfel des Libanon im Norden zu identifizieren, unterhalb dessen sich der Zedernwald von Bischarri befindet. Sie erschließen das aus einer angenommenen dritten Reise Jesu in den Libanon, bei der er sich deutlich weiter nördlich des „Gebiets von Tyrus und Sidon“ bewegt habe.
Wo Paulus viele Freunde hatte
Die libanesische Küste lag auf dem See- und Landweg zwischen Antiochia und Jerusalem, den beiden wichtigsten Zentren des entstehen den Christentums. Diese geografische Lage machte die Küste zu einer wichtigen Route für die ersten reisenden Apostel. In der Apostelgeschichte (15,3) heißt es, dass Paulus und Barnabas von Antiochia aus „durch Phönizien und Samaria zogen“, um sich zum Konzil von Jerusalem zu begeben. Am Ende seiner dritten Missionsreise, auf der er unter anderem von einem Mann namens Lukas begleitet wurde, schiffte sich Paulus in Patara in Lykien nach Palästina ein. Das Handelsschiff legte in Tyrus an, um seine Ladung zu löschen, bevor es nach Ptolemais (Akko) und schließlich nach Cäsarea weiter fuhr. Paulus blieb sieben Tage bei „Jüngern“ in Tyrus, bevor er wieder in See stach. Er wurde laut Apostelgeschichte von Gläubigen beherbergt, die bereits eine Gemeinde gebildet hatten. Der Abschied in Tyrus war innig: „… sie alle, auch Frauen und Kinder, begleiteten uns bis vor die Stadt. Am Strand knieten wir nieder, beteten und nahmen Abschied voneinander“ (Apg 21,5). Auf dem Weg von Cäsarea nach Rom, als Gefangener auf Bewährung, legte Paulus erneut in Sidon an und der mit seiner Bewachung beauftragte Hauptmann Julius erlaubte ihm, in die Stadt hinunter, „zu seinen Freunden zu gehen und sich versorgen zu lassen“ (Apg 27,3). Der Libanon trat also schon sehr früh in die christliche Geografie ein – und zwar intensiver, als es oft bewusst ist!
[Frédéric Alpi lehrt und forscht am Institut français du Proche-Orient in Beirut.]